Letzter und längster Tag! Zwar war ich zuversichtlich, dass ich bis Cala Gonone laufen könnte; zum Schluss wurde das jedoch noch ziemlich weit. Planbar war das Vorhaben sowieso nicht, und so liess ich die Dinge auf mich zukommen, und es dauerte schliesslich geschlagene vierzehn Stunden. Die grosse Unklarheit des Tages war, ob für die langen Abseilstrecken wirklich 40 Meter Seil reichen würden, und wie gut sie zu bewältigen waren.
Mittlerweile habe ich den Rhythmus gefunden, und meine Morgenroutine ist schnell erledigt. Kurz vor 7 Uhr mache ich mich auf den Weg. Vom Ovile geht es auf ein Felsplateau hinunter, und ich frage mich bange, wie ich über dessen steile, hohe Ränder hinab gelangen soll. Mein geübtes Auge erspäht Abnützungsspuren auf Steinblöcken, welche in eine Spalte hinunter zu führen scheinen. Volltreffer! Die Spalte windet sich hin und her, bevor sie einen unvermittelt in einer eindrückliche Kluft ausspuckt. Diese wird zunehmend enger, und entlässt eine schliesslich auf einem kleinen Balkon über dem Meer. Sa Nurca heisst die Klamm, und auch wenn ich diesen Begriff nicht verstehe, schwingen darin gleichenteils Geborgenheit wie Engnis mit. Für den frühen Morgen eine eigenartige Mischung, passend jedoch zum ganzen Tag. Denn nach der ersten, einigermassen harmlosen Abseilstelle über 20 Meter steht schon bald der erste Höhepunkt an: 40 Meter hoch, selbstverständlich überhängend, mit bequemem Zustieg und sehr gut eingerichtetem Bohrhakenstand.
Meine allergrösste Sorge ist, dass die Angabe der Seillänge ungenau sein könnte; 40 Meter Seil und nicht mehr habe ich dabei. Die zweitgrösste liegt in den schlechten Erfahrungen mit der ersten Abseillänge begründet, wo ich das Seil gerade noch knapp zu halten vermochte. Dieses Mal soll alles besser werden! Zuerst rüste ich meinen Rucksack in den Modus Wurfboje um, indem ich alle Bändel festzurre und den Hüftgurt abnehme. Am Seilende lasse ich den Toten Mann hinunter und atme erlöst auf, als er knapp vor Ende der Seilreserve irgendwo zum Stehen kommt. Im Nachhinein betrachtet wäre es sicherer gewesen, zwischen Seil und Rucksack noch 6 Meter Reepschnur einzuknüpfen, denn das Gelände unten ist nicht einsehbar, und der Sack hätte auch irgendwo im abschüssigen Gelände hängen können. Stattdessen ruhte er jedoch brav auf einem kleinen Absatz, und das Seil war entlastet. Erstes Problem gelöst!
Auf zum Abseilen! Mein Ultralight-Klettergurt lädt überhaupt nicht zum längeren Hängen ein. Der gepolsterte Hüftgurt des Rucksacks lässt sich zusätzlich als bequeme Sitzschlinge einsetzen. Ich bin wirklich begeistert! Trotz aller Zusatzmassnahmen bleibt diese Abseillänge ein ausserordentlich eindrückliches Unterfangen. Mit 30 Meter Luft unter dem Hintern freihängend an einem 6mm dicken Schnürchen hängend, suche ich nach Argumenten, weshalb es wider dem kümmerlichen Anschein trotzdem halten soll. Rechts wölbt sich eine gewaltige Felsflucht über meiner Leere, und ich lasse die dünne Leine langsam und stossweise durch die Hände laufen. Interessanterweise wird das Erlebnis mit zunehmender Annäherung an den Grund nicht unbedingt besser. Denn nach 30 Metern ist zwar der Boden nur noch 10 Meter entfernt, dafür schwingt das dünne Stricklein nun mit jedem Abseilstoss aufreizend hoch und nieder. Verbunden mit dem Wissen, dass meine Abseilverankerung durch derartige Bewegungen gelöst wird, verlangt dieser Moment sehr viel emotionale Disziplin. In Tat und Wahrheit braucht es natürlich ein vollständiges Entlasten der Verankerung über rund zwanzig Wiederholungen, damit sie sich löst, aber auf solche Feinheiten mag ich gerade nicht eingehen. — Endlich unten angekommen, weiss ich nicht, ob ich mich freuen soll über den festen Boden unter den Füssen oder doch vielmehr ärgern über das grenzwertige Erlebnis. Es bleibt bei einem diffusen Gemisch der Gefühle.
Unterhalb des überwundenen Absatzes liegt die bewaldete Flanke des Biriolawalds, durch welchen ein für einmal gut erkennbarer Pfad führt. Anfänglich steigt man bis an die Böschungskante über dem Meer ab. Danach quert man die ganze Flanke und tritt erst beim Übergang zum Orronnorowald wieder ins Freie. Dort geht es auf einem schmalen Band um eine Kante, und dahinter steigt der befestigte Pfad in Serpentinen entlang der Felsen hoch. Danach folgt wieder viel Wald, bis man den grossen Felssturz unterhalb der Punta Plummare erreicht. Eine gewaltige Verwüstung zeigt sich dort! Aus der mächtigen Felsflanke ist ein rechtes Stück Berg abgebrochen und hat sich als breite Gerölllawine über die Flanke ergossen. Eine Wegspur ist auf den ersten Blick nicht auszumachen, aber beim zweiten Hinsehen aus der Nähe lassen sich einige Steinmarkierungen ausmachen, und die Durchquerung verläuft recht glatt. Drüben taucht man wieder in den Wald ein und setzt die Querung fort.
Voraus zieht der Kamm der Punta Plummare gegens Meer hinab und schneidet einem den Weg ab. Dessen Überwindung wird mit Kletterei im vierten Grad beschrieben und stellt das letzte grosse Fragezeichen dar. Denn richtig geklettert bin ich bis dahin noch nicht, und deshalb fehlt mir jegliche Vergleichsmöglichkeit für diesen Schwierigkeitsgrad hier. Ein giftiger Vierer könnte mich in Turnschuhen schon ins Schwitzen bringen, und mit Selbstsicherung könnte das recht aufregend werden. Vor Ort zeigt sich eine Rissspur an einem senkrechten Aufschwung mit etwas splittrigem Fels. Sieht deutlich nach Vier aus. Rechts ums Eck hingegen kann man ein Fixseil erspähen, entlang dem man über Felsplatten hochklettern kann. Auch dort ist die Kletterei nicht ganz einfach, aber der Fels löchrig und fest. Mit der vorgegebenen Absicherung ist die Kletterei sogar mit Rucksack das reine Vergnügen. Herrlicher Fels und unter mir das grosse Blau, fast wie Kletterferien am Mittelmeer. Zum Dessert folgen bald darauf nochmals 40 überhängende Abseilmeter, die ich mittlerweile ganz routiniert hinter mich bringe.
Nun ist es wirklich nicht mehr weit bis zur Cala Sisine! Noch eine letzte bewaldete Flanke traversieren, bevor man wieder auf Felsen stösst, an deren Fuss man sich entlang schleicht. Der Weg ist weiterhin fast überdeutlich zu erkennen, und zu allem Überfluss ist er nun häufig mit blauen Punkten markiert. Bei den zwei Felsnadeln vor der Cala Sisine steigt man noch etwas an und erreicht bald darauf die finale, kurze Abseillänge — überhängend, “ma certo!” Und dann erreicht man ziemlich unvermittelt die Cala und steht bald darauf am Strand. Auch dieser ist fast menschenleer, und ich halte kurz inne. Nicht für lange, denn erstens sieht es nach Gewitter aus, und zweitens ist der Weg bis nach Cala Gonone noch weit. Keine Frage, dass ich den Ort noch erreichen werde, aber den exakten Wegverlauf habe ich noch nicht festgelegt. Ich weiss, dass ich wieder auf über 600 müM aufsteigen muss, bevor der Sentiero Cala Luna abzweigt. Allerdings gibt es auf meiner Karte auch eine nördliche Variante, die mit Schwierigkeit T4 angegeben ist. Auch wenn es mit der Zeit knapp werden könnte, gebe ich der Aussicht auf etwas zusätzliches Abenteuer den Vorzug gegenüber einem einfachen Wanderweg.
Der Aufstieg ist verhältnismässig schön, steinig halt und wie üblich wenig deutlich aufzufinden. Ich freue mich schon auf das letzte Mal verirren, während ich mich mit den vorletzten paar Mal abmühe. Auf dem schottrigen Untergrund lassen sich wieder einmal unzählige “Wege” erkennen, welche über kurz oder lang in die Irre führen. Zusammen mit dem unpräzisen Kartenmaterial ist besonders auch für die langen Irreführungen gesorgt. Ach, mir reicht es langsam! Es steht jedoch noch ein besonderes Zückerchen bevor, nämlich die lange Traverse auf der Höhe. Ein Karrweg führt durch grobblockiges Gelände und ist — im Gegensatz zum ersten Anschein — nur recht mühsam zu begehen. Einfacher Wanderweg, aber nichts mit schnellem Vorankommen! Flott voran geht es endlich auf dem Sentiero Cala Luna. Zügig steige ich ab und biege beim Abzweiger kurzentschlossen in die Variante. Ein letztes Abenteuer lockt! Der allgemeine Wegverlauf ist deutlich erkennbar: Zu einem Rücken hinüber und diesem entlang über dessen Abbruch in die Codula Cala Luna hinab. Was kann daran schwierig sein?
Ja, was denn?! Mal für Mal stehe ich irgendwo im Grünen und halte nach einem Wegzeichen — mag es noch so schwach sein — Ausschau. Der Weg ist in der Tat teilweise fast übersät mit steinernen Markierungen; streckenweise findet sich alle drei Meter etwas. Das sollte mir eine Warnung sein! Wenn das Terrain offenbar selbst für sardische Verhältnisse unübersichtlich ist, wird die Wegfindung wirklich anspruchsvoll. In der Tat ist es alles andere als offensichtlich, eine Spur auszumachen. Nach einer Weile folgt man direkt der Abbruchkante des Grats gegen das Tal hin, und man beginnt sich zu fragen, wie diese Felskippe überwunden wird. Weit vorne schliesslich häufen sich die Wegzeichen und führen in die Flanke hinunter und unerbittlich auf den Abbruch zu. Da hinunter?! Fürchtet euch nicht, denn den Gläubigen sind Baumstämme gegeben. Und wenn das mal nicht reicht, dann nehmen wir noch etwas dünnen Stahldraht dazu, damit sie wirklich sicher halten. Was kann da schon schiefgehen? Diese Konstruktion ist bei weitem die windigste, die ich gesehen habe. Aber sie hält — besser: sie hat gehalten!
Der Weg steigt anschliessend über eine geröllige Flanke ab, welche im Anschluss weit traversiert wird, bevor man zum Schluss über eine mächtige Geröllhalde bis ins Tal hinuntersteigt. Unten angekommen folgt man den Mäandern der Talsohle durch eine eindrückliche Felslandschaft hindurch. Wie auf einer Fahrt entlang dem Canale Grande in Venedig bestaunt man eine Felsformationen nach der anderen. Unglaublich schön im Abendlicht! Ach ja, der Tag neigt sich seinem Ende entgegen, und so verweile ich auch an diesem Strand nicht. Gute Ausrede, gell? — Den Weiterweg kenne ich zwar, jedoch erinnere ich mich nicht mehr an Details. Beispielsweise dass der Untergrund extrem mühsam zu belaufen ist. Dreckgefüllte Karrenfelder trifft den Sachverhalt vielleicht, abgesehen davon, dass die Spitzen hervorstehen und flüssiges Vorankommen verunmöglichen. Ohne Rucksack ging das noch recht flott, aber am Ende eines langen Tages auf dem Sentiero Blu ist nicht mehr viel mit beschwingtem Hüpfen.
Immerhin scheint es, dass ich mein Tagesziel erreichen werde, wenn auch nicht mehr bei Tageslicht. Ob dieser Erkenntnis setze ich mich hin und leere die letzte Wasserflasche, welche ich fürs Kochen aufgespart hatte. — Manchmal neige ich zu einem ausschweifenden Erzählstil, der sich vermutlich nicht immer flüssig liest. Ich möchte möglichst genau schildern, was in mir vorgeht, ohne langweilig zu werden. Der Reichtum an Empfindungen beim Bergsteigen kontrastiert in augenfälliger Weise mit der äusseren Monotonie der Aktivität, und diese innere Welt zu beschreiben ist mein Ziel. Nie jedoch will ich der blossen Gefälligkeit wegen klischeehafte Formulierungen verwenden. Und so schwöre ich bei allen Baumstämmen von Sardinien, dass sich das folgende genau so zugetragen hat, wie ich es hier niederschreibe. — Mit jedem Schluck vom kostbaren Nass erscheinen mir Bilder von den einzelnen Wasserquellen vor Augen. Cala Goloritzé, die Quelle in der Felswand — die Halbhöhle mit Oleander und dem Kessel mit Tropfwasser — die tiefe Stalaktitenhöhle mit dem Wasserfass ganz zuunterst und die nächste Höhle mit dem Wasserfass in einer Nische versteckt. Noch nie habe ich den Wert von Trinkwasser derart geschätzt wie auf dieser Tour hier!
Im letzten Licht steige ich in die Cala Fuili ab und auf der anderen Seite gleich wieder die vielen Stufen hoch. Oben angekommen ist es definitiv finster geworden, und ich marschiere auf der Küstenstrasse Cala Gonone entgegen. Freundlicherweise nimmt mich jemand im Auto mit, und so kann ich fast schon erholt in der weltmeisterlichen Gelateria das lang ersehnte Eis bestellen. Die Sorte Selvaggio Blu mit wilden Heidelbeeren gibt es leider noch nicht, und ich gebe mich mit himmlischem Pistazieneis und Mangosorbet zufrieden. Welch ein Abschluss!
Vierter Tag bis Cala Gonone
Zwei lange und zwei kurze Abseilstellen, eine Kletterstelle, viel Wald und lange Distanzen. Wegfindung meistens einfach, abgesehen vom abenteuerlichen Abstieg zur Cala Luna. Belaufbarkeit in den Wäldern gut, sonst wie immer.
- Vom Ovile Piddi absteigen bis es nicht mehr geht und in die Klamm Sa Nurca absteigen.
- Bald danach zwei Abseilstellen (20m und 40m) an den unteren Rand des Biriolawalds. Dieser wird in seiner ganzen, enormen Breite gequert wird.
- Nach dem leicht ausgesetzten Übergang zum Orronnorowald wird auch dieser gequert bis zu einem Felsriegel, der über eine nicht ganz einfach Kletterseillänge überwunden wird.
- Durch zunehmend dichter werdenden Wald bis zu einer letzten Abseillänge über der Cala Sisine.
- Gegenaufstieg über den Cuile Irove Longu bis auf ca. 600 müM und Traverse bis zum Sentiero Cala Luna.
- Entweder direkt weiter oder auf ca. 400 müM nach N abzweigen und kurz ansteigen. Weiter über wenig begangenes Gelände zum Felsrücken, welcher über der Grotta su Forrargiu ins Tal des Riu Codula Ilune hinunterzieht.
- em zunehmend felsigen Rücken entlang absteigen bis zu einer Passage, wo eine Leiter über die steile Klippe hinab führt. Danach weiter absteigen und die Flanke traversieren, bis sie nach N zeigt, und von dort über eine eindrückliche Geröllhalde ins Tal absteigen.
- Dem Fluss folgen bis zur Cala Luna. Auf dem viel begangenen Weg zur Cala Fuili und von dort auf der geteerten Küstenstrasse zum Gelato in Cala Gonone.
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