2022-05-01 SBlu-2

Zweiter Streich und gleich schon ein entscheidender! Meine Wasservorräte sind so weit geschrumpft, dass ich sie unbedingt in der Cala Goloritzè auffüllen muss. Sonst könnte ich nicht weiter und müsste von dort zum Golgoplateau aufsteigen und weiterschauen. Aufgefüllt hatte ich sechs Liter am Baus, dem Bach unterhalb der Punta Giradili, aber damit kommt man nun mal nicht weiter als zwei Tage. Ich rechne mit zwei bis drei Litern für unterwegs plus einem Liter fürs Abend- und Morgenessen. Überhaupt wird das Trinkwasser zum dominierenden Thema während des ganzen Treks! Zusammen mit der Routenplanung, denn ab der Cala Goloritzè will ich den Originalweg verlassen und anstatt dem Aufstieg über den Varco Boladino zur Serra e Lattone versuchen, den Weiterweg über die Variante Vista Mare zu versuchen. Davon habe ich auf einigen wenigen Internetseiten gelesen, aber teils bestanden die Informationen nur aus Andeutungen, teils waren sie offensichtlich nur für ein lokales Publikum gedacht, das mit dem Gelände schon vertraut ist. Die Planung war für mich sehr schwierig und entsprechend unsicher bin ich, was den Weiterweg anbelangt. Es wird ein eigenes Abenteuer werden!

Die Nacht unter dem Sternenhimmel war ruhig und warm; kaum irgendwelche Tier- oder andere Laute störten die Ruhe. Schon fast gespenstisch ruhig! Ich hatte erwartet, dass sich mindestens Mäuse an meine Vorräte ranmachen möchten, aber in dieser Kargheit können nicht mal sie überleben. Überhaupt habe ich ausser Vögeln praktisch keine Tiere gesehen, nicht einmal Insekten. Schon lange bin ich nicht mehr so weit weg vom Alltag in der Zivilisation gewesen — und so einsam gefühlt. Wieder einmal eine gute Erfahrung! Lustig auch im Halbschlaf zu realisieren, dass plötzlich über mir ein anderer Sternenhimmel steht als noch beim Einschlafen — nämlich ein verdrehter.

Am Vortag war ich noch nicht besonders weit gekommen, nach der zurückgelegter Distanz geurteilt, und ich fragte mich auf verschiedenen Gründen, was ich da eigentlich gerade tat. Am ersten Morgen dauert alles noch ein wenig länger, und so kam ich erst nach acht Uhr los. Zunächst ging es auf gut sichtbarem Pfad durch den Wald, anschliessend entlang eines Maultierwegs und dann wieder im Bogenlauf weiter durch den Wald. Mittlerweile wusste ich, auf was zu achten war, und verlor die Spur nur noch selten. Vom Aussichtspunkt (GPS 2i) direkt an der Abbruchkante der Steilküste zum Meer folgt ein “hübscher” Aufstieg von 300 Höhenmetern fast ausschliesslich über die verhassten “campi solcati” (wörtlich: umgeackerte Felder, und etwa danach fühlt sich das Darüberlaufen auch an). Oben gelangt man zum Ovile su Runcu ‘e su Pressu, der in einer steinigen Landschaft steht. Ein sehr schöner Ort!

Von dort ist es nicht weit bis zur Punta Salinas, die ich nach einer kurzen Weginterpretationskrise auch erreiche, und auf die Nadel Aguglia di Goloritzè hinunterblicke. Vor allem aber suche ich das Gelände dahinter ab, ob ich den Weiterweg erahnen kann. Der Abstieg ist dann überraschend steil und ruppig. Im Talgrund verläuft er dann auf einer befahrbaren Piste, welche an spektakulären Felsformationen führt und abrupt auf einem Balkon über dem Strand endet. An jenem Sonntagmorgen waren erst einige wenige Ausflügler in der Bucht, die meisten davon Einheimische. “Mamma mia, che spettacolo!” rief einer freudestrahlend, als er sich umblickte. In der Tat ist der Anblick überwältigend. So lässt sich auch meine Freude beschreiben, als ich das munter fliessende Rinnsal erblicke, welches aus der Felswand sprudelt. Was die Kinder zum “sändele” benützen, ist für mich die Erlösung von allen Zweifeln über die Durchführbarkeit des ganzen Vorhabens. Noch nie habe ich den Wert von frischem (Süss-!)Wassser derart geschätzt.

Gemütlich raste ich und labe mich am köstlichen Nass. Auch das zweite erwartete Desaster nach dem Stockbruch vom Vortag, nämlich ein Löchlein im Trinkbeutel ist schnell repariert. Gestärkt mache ich mich alsbald auf ins Ungewisse. Denn ab hier habe ich nur noch eine vage Beschreibung der weiteren Route. Ich will direkt über dem Meer bis zu einem Felsaufstieg traversieren, über den ein kurzer Klettersteig führen soll. Mein einziger konkreter Anhaltspunkt ist die Angabe, dass über die grosse weisse Platte am nördlichen Ende der Buch hochgeklettert werde. Dort hinauf?! Glatt, steil und vermutlich alles andere als leicht sieht sie aus. Oben verläuft sie sich im steilen Geröll, und der Ausstieg ist nicht eindeutig auszumachen. Plattenklettern mag ich eigentlich besonders gut, aber mit 25 kg Gepäck und Turnschuhe an den Füssen über eine sandige Kalkplatte hochschrubben gefällt mir doch nicht. Mühsam versuche ich mich links davon durch grobes Geröll hochzumogeln, bis das Gelände fast haarsträubend steinschlägig wird. Also doch über die Platte probieren! Steil ist sie, entpuppt sich jedoch aus der Nähe als erfreulich gut strukturiert aus recht griffigem Urgestein. Den sandigen Partien lässt sich gut ausweichen, und neben einigen Standhaken stecken auch da und dort einige verrostete Eisenstängelchen im Fels. Der Ausstieg auf die kiesige Böschung verlangt wegen des Sands Konzentration, lässt sich jedoch ausreichend sicher bewältigen.

Ein schmaler Pfad führt hinüber zu den sog. hängenden Bäumen, einer Ansammlung von krumm gewachsenen Bäumen. Einerseits ist es ja gut, dass in diesem Geröll überhaupt Bäume wachsen, andererseits zeigt die Wuchsform auch die Bewegung des Untergrunds auf. Von dort traversiert man die steilen Flanken über Stock und Schutt. Drei tief eingeschnittene Runsen sind zu überwinden, und da und dort sind Seile installiert; ab und zu sind damit auch bloss Äste fixiert, entlang derer hinunter gekraxelt werden muss. Das vergrössert den Unterhaltungswert beträchtlich, was allerdings gar nicht notwendig wäre, denn das Gelände allein ist anspruchsvoll genug. Ohne Fixseile möchte ich es nicht begehen, und auch so verlangt es volle Konzentration. Eine letzte, steile Geröllhalde wird überwunden, ehe man bei grossen Halbhöhe ankommt, welche schon von der Cala aus sichtbar ist.

Zu meiner Überraschung nimmt gerade eine ganze Gruppe den Klettersteig in Angriff. Sie sind von oben über eine lange Abseilstrecke zugestiegen und wollen nachher auf meinem Zustiegsweg zur Cala Goloritzè hinüber. “NA, dann viel Vergnügen!” denke ich im Stillen. Von einem Auswärtigen lassen sie sich sowieso nichts sagen, und so bin ich froh, dass ich zwischendurch einsteigen darf. Der Klettersteig ist kurz, bloss etwa 30 Meter hoch. Zu Anfang traversiert man etwas abdrängend zur Kante hinaus, und der Rucksack macht sich störend bemerkbar. Nachdem man dieses Eintrittsbillet gelöst hat, kraxelt man an wunderbar griffigem Kalk hoch, wobei durchaus auch geklettert wird und nicht nur an Eisenbügeln hochgestiegen. Am senkrechten Ausstieg muss noch einmal kräftig zugelangt werden, bevor man sich in angenehmen Gelände wiederfindet.

Von dort weg habe ich keine weiteren Angaben über den Ausstieg, und auch die Auskünfte der lokalen Abenteuerfraktion helfen mir nur bedingt weiter. Immerhin weisen sie mir ungefähr die Richtung ihres Zustiegs, den ich allerdings nirgends auf meinen Karten einordnen kann. Kurz darauf schlägt das Wetter um, und ein Regenguss beginnt sich zu entladen. Glücklicherweise verzieht sich das Gewitter schnell hinter den steilen Felswänden. Bald stosse ich auf einen befestigten Maultierpfad, dem ich folgen könnte, um zur Serra e Lattone aufsteigen könnte; gemäss Auskunft könne man auch weiter zur Cala Mariolu absteigen. Etwas unschlüssig suche ich die gute Entscheidung, finde jedoch keine Anhaltspunkte dafür. Ich kann mir nicht vorstellen, wo die Wege hinführen, und wie sie die Felswände überwinden sollten. Deshalb folge ich meinem Instinkt und traversiere weiterhin entlang der Küste.

Der Steig verengt sich bald zu einer Pfadspur, die immerhin deutlich erkennbar bleibt. Eine eindrückliche Schlucht wird mithilfe einer wackligen Baumstammkonstruktion durchquert. Da erweist es sich als wahrer Segen, dass der Regen nur von kurzer Dauer war, denn das nackte Wacholderholz wird bei Nässe ausserordentlich glitschig. Drüben befindet man sich direkt unter der Punta Lattone und traversiert die steilen Flanken zu einer nächsten tief eingeschnitten Runse im gerölligen Untergrund. Der Weg ist ausreichend gut ausgetreten und führt zu einem der breiten Zustiege in die Cala Mariolu. Erneut bin ich unschlüssig, wie es weitergehen soll. Denn ob und wie es von dort weitergeht, weiss ich überhaupt nicht. Eigentlich sollte ich nun zur Punta Lattone aufsteigen. Wenn ich aber schon einmal hier bin, könnte ich die Cala Mariolu kurz besichtigen. Bekanntlich bin ich kein Strandfan, aber diese wunderschönen Buchten mit ihren spektakulär schönen Zustiegswanderungen haben es mir regelrecht angetan. Also deponiere ich das Gepäck und laufe befreit zum Meer hinunter.

Unten angekommen, entdecke ich eine Festbankgarnitur um einen Pizzaofen herum im Wald über der Felsküste. Folgt man der Küste weiter, leitet eine wacklige Baumleiter zur nördlichen Bucht. Jene sieht wunderschön aus, aber ich bin ja nicht zum baden her gekommen. Von einem Weiterweg ist überhaupt nichts auszumachen. Also wieder zurück nach oben und dann von dort aus weiter auf dem Originalweg! Ich geniesse es, auf dem breitem Weg hochzulaufen und endlich wieder einmal richtig auszuziehen. Vom Rucksackdepot habe ich mir die Höhe eingeprägt, aber ich werde es auch so erkennen, wenn ich daran vorbeikomme — meine ich. In Tat und Wahrheit will und will das Depot einfach nicht kommen, und dann beginne ich auch noch, die Fakten so zu interpretieren, dass sie zu meinen Erwartungen passen. Erst als ich etwas zweihundert Höhenmeter zu hoch bin, realisiere ich, dass zwei verschiedene Wege in die Cala hinabführen müssen, und dass ich offenbar den Abzweiger verpasst haben muss. Das hat mir gerade noch gefehlt!

Das Missgeschick passt zum heutigen Nachmittag. Mir scheint, dass irgendetwas will, dass ich die Nacht in der Cala Mariolu verbringe. Manchmal muss man sich solchen Kräften einfach ergeben. Nach einigem Suchen finde ich die Abzweigung, welche von dieser Seite kaum zu erkennen ist. Endlich gelange ich zum Materialdepot, und trotte wieder zur Cala hinunter. Wegen meiner zusätzlichen Eskapaden ist die Zeit schon recht weit fortgeschritten, bis ich die nördliche Bucht erreicht habe. Auf dem makellos weissen Kieselstrand richte ich ein regengeschütztes Nachtlager ein, denn der Himmel ist immer noch bewölkt. Abgesehen von der Cala Goloritzè bin ich seit zwei Tagen keinem Menschen mehr begegnet, und auch jetzt bin ich mutterseelenallein. Mittlerweile bin ich etwas dürr, und es dauert eine kleine Ewigkeit, bis ich mich soweit installiert habe, dass ich das Abendessen in Angriff nehmen kann. Auf einem schönen Felsen über dem Meer kann ich zum ersten Mal etwas entspannen und meine Gedanken sammeln. Nicht für lange, denn um 20 Uhr steht der Playoff-Final im Eishockey an, den ich unbedingt schauen will. Mitunter war auch das ein Grund, dass ich mich nicht allzu heftig gegen die Übernachtung in der Cala Mariolu gewehrt hatte, denn der Handyempfang ist dort einwandfrei.

Damit wendet sich der Tag wieder zum allerbesten. Als ich zum wiederholten Mal übers Internet nach einem Weiterweg von der Cala Mariolu direkt nach Norden suche, werde ich endlich fündig. Das Bild eines GPS-Tracks zeigt, dass man durch eine Rinne aufsteigen kann und dann die anschliessende Flanke traversieren. Allerdings schaffe ich es nicht, den Track herunterzuladen, und die Darstellung ist sehr vage und sicher verzerrt. Mehr als die Information, dass es dort irgendwo durch möglich ist, kann ich nicht heraus destillieren. Also widme ich mich den drei schönsten Eishockeydritteln der Saison und juble lauthals in den Sternenhimmel, als die nicht mehr erwartete Wende von einem 0:3 Rückstand tatsächlich mit 4:3 Siegen im Meistertitel mündet. Schon an den ersten Meistertitel des EV Zugs im Jahr 1998 habe ich unauslöschliche Erinnerungen, als ich nach einer langen Skitour übers Rorspitzli in Wassen auf einer Mauer sass und in der Sonntagszeitung die freudige Nachricht las. Die Erinnerungen an diesen speziellen Abend an der Küste Sardiniens werde ich ebenso wenig vergessen.

Zweiter Tag bis zur Cala Mariolu

Bis zur Cala Goloritzè eine Sight-Seeing Strecke, danach ernsthaftes Gerölltrecking, bis man auf den Weg zur Cala Mariolu stösst. Einfacher Abstieg in die liebliche Bucht.

  • Vom Ovile Fenos Trainos zu einem tollen Aussichtspunkt über dem Meer (GPS 2i), von wo aus der gesamte Weiterweg sichtbar ist. Anstieg zum Ovile su Runcu über immerhin etwas aufgesteilte Karrenfelder.
  • Der Abstecher zur Punta Salinas lohnt sich unbedingt, denn der freie Blick auf die Felsnadel von Goloritzè ist einzigartig.
  • Steiler Abstieg ins Tal des Bacu Goloritzè und von dort auf breitem Karrweg zur Bucht.
  • Wasser fliesst reichlich, zumindest wohl bis in den Sommer hinein.
  • Am nördlichen Rand der Bucht anregende, aber nicht schwierige Plattenkletterei, welche zur Traverse hinauf führt. Der Untergrund ist sehr brösmelig, und das Gelände insgesamt anspruchsvoll. Vorsicht auf allfällige Strandbesucher der hinteren Buchten wegen Steinschlag!
  • Der Klettersteig ist kurz, aber nicht ganz ohne! Es wird tatsächlich geklettert.
  • Danach steigt man in nördlicher Richtung auf, bis man auf einen befestigten Maultierpfad stösst. Dieser verengt sich zu einer Pfadspur, welche die gesamte Flanke traversiert. Eine tief eingeschnittene Runse wird im Fels dank einer Baumstammkonstruktion überwunden.
  • Irgendwann stösst man auf den südlichen Zustiegsweg zur Cala Mariolu und gelangt innert Kürze zur Bucht hinunter. Der makellos weisse Kieselstrand wird über eine wacklige Leiterkonstruktion erreicht.

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