2022-10-14 Campo Imperatore

Anreise zum Abenteuer Gran Sasso! Nach langer, langer Vorbereitungszeit geht es schnell voran: Von Rom führt mich die Eisenbahn innert zweier Stunden nach Avezzano, wo ich einen Lieferwagen miete und ins vollends Unbekannt aufbreche. In den Abruzzen sind die Wälder schon herbstlich verfärbt, und die Erinnerung an sommerliche Frische verblasst vollends auf dem Weg von L’Aquila hoch. Die Landschaft wird zusehends unwirklicher, und mit Erreichen der weiten Hochebene auf rund 1600müM wähnt man sich abwechslungsweise in Tibet oder im Wilden Westen. Ich komme ebenso wenig aus dem staunen wie dem photographieren heraus.

Campo Imperatore schlägt dann fast dem Fass den Boden heraus! Eine Hotelarchitektur sondergleichen krümmt sich im ockerroten Halbbogen gegen Süden, daneben ragen ein astronomisches Observatorium sowie eine futuristisch moderne Seilbahnstation neben der alten in traditioneller Steinbauweise empor. Überwältigt von Rom mit seinen antiken Baudenkmälern, bin ich nicht weniger beeindruckt von dieser Szenerie hier.

Nach einer kurzen Stärkung in der Bar platziere ich mein “Wohnmobil” mit Sicht zum Sonnenuntergang und mache mich auf eine erste Erkundungstour des Gebiets. Zuerst steige ich zum Rifugio Duca degli Abruzzi hoch, welches direkt über Campo Imperatore thront. Anschliessend deponiere ich ein erstes Fuder Wasser bei der Sella di Monte Aquila. Im Hang unterhalb der Krete suche ich ein geschütztes Plätzchen, um die Flaschen zu verstauen. Da äugt eine Gämse interessiert herunter, und ich will mich schon ab der friedlichen Begegnung freuen, als sie zusammen mit ihren Kollegen beginnt, mit vollem Karacho in die felsige Seitenflanke zu springen. Steinschlag rumpelt herunter, und ich kann nur froh sein, dass ich mich abseits der Falllinie befinde. Das war klare Absicht! Falls Tiere ein Bewusstsein haben sollten, dann handelt es sich bei diesen Viechern um ganz miese Charaktere. Und von den Fallgesetzen der Physik haben sie auch keine Ahnung. In diesem Moment habe ich meine Überzeugung aufgeweicht, vegetarisch zu kochen. Wildpfeffer, juhee!

Die Wolken sind tiefer gesunken, als ich mich zum Rifugio Garibaldi aufmache. Es handelt sich um die älteste CAI-Hütte auf dem ganzen Appenin. Derzeit scheinen Umbauarbeiten im Gang zu sein. Nach einem kurzen Augenschein steige ich wieder zur Sella hoch, um auf direktem Weg zurückzukehren. So direkt wäre der Weg nicht gemeint gewesen, wie es dann ablief. Im steilen Abstieg erlebe ich eine Schrecksekunde, die mit Glück nicht zur finalen wird. Im Nachhinein ist man immer klüger, und ich hatte genügend Zeit, um die Situation zu überanalysiseren, sodass ich heute festhalten kann, dass Rock’n Roll und Schlaghosen eine sehr ungünstige Kombination darstellen.

Dolomit ist ein merkwürdiges Gestein, dessen blosse Existenz lange nicht erkannt wurde, obschon ein ganzes Gebirge — nämlich die Dolomiten — daraus aufgebaut sind. Man meinte, es handle sich um ein Art von Kalkgestein. Erst Déodat de Dolomieu erkannte im 18. Jahrhundert, dass es — im Gegensatz zu jenem — kräftig schaumend mit Salzsäure reagiert. Von Auge lassen sich die beiden fast nicht mit Sicherheit von einander unterscheiden. Ich kann den Unterschied jedoch fühlen. Am ersten Tag in einem Dolomitgebiet frage ich mich jeweils, ob ich eigentlich noch richtig trittsicher gehen kann. Denn es es ist richtig auffällig, wie häufig ich ganz unerwartet im Geröll ausrutsche, wo ich doch eigentlich meine, die Festigkeit gut abschätzen zu können. So auch an jenem ersten Tag im Gran Sasso-Gebiet. An diesem Tag trug sich eine weitere Merkwürdigkeit zu, die mir fast zum Verhängnis geworden wäre. Als ich nämlich los ging, war es schon Nachmittag, und ich behielt gleich meine Reiseklamotten an, weil ich ja keine eigentliche Tour vorhatte.

Im dümmsten Moment rutscht mir über einer kurzen Felsstufe der Fuss weg! Kann ich mich üblicherweise aus derartigen Flugphasen mit einem beherzten “kick-ball-change” retten, verhakt sich die griffigen Sohle meines fast neuen Bushidos im Stretchmaterial der Hosenstösse. Im vornüber gebückten Einbeinflug segle ich ins Nichts und purzle daraufhin das steile Bord hinunter, das glücklicherweise weiter unten wieder vom Wanderweg geschnitten wird. Irgendwann kann ich meinen Fall zum Stillstand bringen

In Stresssituationen drücke ich meine Gedanken deutlich hörbar in Worten aus: “Knie ganz?” OK. Mühsam steige ich zum Weg ab. “Das schaffe ich!” Oberschenkel schmerzen. “Rein muskulär.” “Linkes Fussgelenk ist instabil.” Ich beisse auf die Zähne. “Unten weiter schauen!” Endlich auf dem Weg! “Hände aufgeschürft?” Nichts Schlimmes. “Rücken?” Gut. “Kopf?” Nichts. Das Knie blutet unter der Hose. “Schaue ich jetzt nicht an.” “Kann ich absteigen?” Der Unterschenkelkopf schmerzt bei Druck. Sachte voran geht. “Ich muss absteigen, solange ich noch kann!” “Welch ein Glück habe ich gehabt!” Kaschiert vielleicht Endorphin irgendwelche Schmerzen? Ich spürte nichts weiter und kann gehen. “Oberschenkel schmerzen, Gesässmuskeln ebenso.” Vermutlich nur massive Prellungen. “Nur muskulär.” Das Becken ist zum Glück gut gepolstert. Darunter fühlt es sich jedoch an wie gewalkt nach einem exzessiven Faszienrollen.

Etwas wacklig auf den Beinen, aber wohlbehalten erreiche ich den Parkplatz und steuere mein fahrbares Schlafgehege an. Keine Fenster, dafür massig viel Platz. Sogar kochen kann ich drinnen vor Wind geschützt. Meine übliche Traildiät bietet zum Auftakt ein Kaffee Schnaps — heute aussergewöhnlich herzhaft dosiert — gefolgt von einem kleinen Fondue, schonend im Wasserbad gewärmt. Im heissen Wasser lässt sich schliesslich ein Portion Biwaknudeln (Fillini oder auch Engelshaar) in Bouillon zubereiten. Damit bin ich dann endgültig pappsatt. Dieses Dreigangmenü liefert viele Kalorien und ist braucht nicht viel Brennsprit.

Einziger leicht problematischer Aspekt ist die am Ende eines langes Tages recht schlagartig eintretende Entspannung, welche das Packen für den nächsten Tag anstrengender und zeitraubender werden lässt als eigentlich notwendig. Kurz nach 20 Uhr bastle ich mein sog. Schlafsystem zusammen und krieche hinein. Immer wieder schlafe ich tatsächlich längere Zeit am Stück, wie ich auf der Uhr ablesen kann. — Ob ich nicht zu alt sei für so etwas, werde ich später von meinem Sohn gefragt. Ich bin einfach einmal froh, dass das ganze Unternehmen zustande gekommen ist, und dies erst noch bei prächtigen Verhältnissen.


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Eine Antwort zu „2022-10-14 Campo Imperatore“

  1. […] solches Gelände manövrieren kann. Nein, das war pure Absicht! Mit lauten Verwünschungen, eine Zukunft im Kochtopf betreffend, jage ich das Biest von […]

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