2022-10-16 Corno Grande Westgipfel, Corno Piccolo

„Grande“ Tourentag mit der Via Direttissima degli Alpinisti in der Südflanke der Cima Occidentale (Westgipfel) des Corno Grande, Abstieg nach Norden zum Rifugio Franchetti, der Via Ferrata Danesi auf den Corno Piccolo mit Abstieg über den Normalweg, gefolgt von der Via Ferrata Brizio zurück an den Südfuss des Corno Grande und schliesslich über die Via Ferrata Bafile zum gleichnamigen Biwak.

Mein ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, die bekannten Gipfel am Wochenende grossräumig zu meiden. Denn bei derart prächtigem Oktoberwetter tummeln sich bestimmt viele Leute auf den renommierten Bergen. Wie das mit Planung so ist, verläuft sie in der Umsetzung schliesslich rollend. Nach zwei durchfrorenen Nächten auf bloss 2100 will ich die vorhergesagten „wärmsten“ Nachttemperaturen der Woche für die Übernachtung im Biwak auf 2600 nutzen. Also doch ins Gewühl!

Mit Start bei Tagesanbruch lässt sich der Aufstieg zum Corno Grande in Ruhe geniessen. Die ersten Autolichter kriechen aus dem Tal über die Hochebene gegen Campo Imperatore hoch, als ich losziehe. Allerdings zieht der Rucksack heute aussergewöhnlich stark in Richtung Erdmittelpunkt. Keine Angst, beim gestrigen Überschreiten des Observatorium ist (vermutlich) nichts schiefgegangen! Es ist nur die vollständige Ausrüstung für Klettersteig, Abseilerei und Biwakübernachtung zusammen mit Wasser und Lebensmitteln für drei Tage, die sich schwerwiegend bemerkbar machen.

Im Aufstieg zum S-Grat werde ich von einem hageren Einzelgänger überholt, der bald schon aus meinem Blickfeld verschwindet. Ganz so langsam bin ich nun auch wieder nicht unterwegs, aber der da steigt behende wie eine Gämse zur Salzlecke! Ich hingegen stosse mich mehr wie eine Kuh auf einer steilen Alpweide hoch, langsam und laut schnaufend. Oberhalb des Sassone (dem „grossen Stoa“) erreiche ich bald die Abzweigung zur Via Ferrata Bafile, welche zum gleichnamigen Biwak führt. Unter einem Felsblock verstaue ich Übernachtungsmaterial und Lebensmittel, bevor ich mich für den Aufstieg über die Via Diretissima degli Alpini rüste.

Corno Grande, Via Diretissima degli Alpinisti

Keine Ahnung, was sich hinter diesem Namen versteckt! Aus den mehr oder weniger vagen Beschreibungen, die ich übers Internet gefunden habe, geht hervor, dass es sich nicht eigentlich um einen Klettersteig handle. Was aber sonst? — Der Aufstieg verläuft vom Einstieg weg in abenteuerlichem Gelände und weist keine Sicherungen auf. Es ist etwa eine WS-Tour im Fels mit zwei „Aber hallo!?“-Stellen, die dafür sorgen, dass man sicher wach wird. Über rund 300hm darf munter gekraxelt werden, bis man direkt den Westgipfel erreicht.

Dort komme ich praktisch gleichzeitig mit einer Gruppe Einheimischer an. Es ist deutlich spürbar, welch grosse Bedeutung sie der Besteigung des Gran Sasso d’Italia zumessen. Der Morgen ist noch ebenso frisch wie meine Beine, als ich mich auf den Abstieg mache. Kurz Richtung NW absteigen und danach zum Rand des Kessels queren, in welchem der Ghiacciaio del Calderone liegt (Kochtopfgletscher). Vom Eis ist nicht vie zu sehen, dafür beeindruckende Mengen an Geröll.

Auch der weitere Abtieg zum Rifugio Franchetti verläuft über immense Schutthalden. Von unten fragt man sich unweigerlich, wie mächtig diese Berge ursprünglich einmal gewesen sein mögen. Das herausragende Merkmal des Corno Grande scheint in der Tatsache zu bestehen, dass er langsamer zerfällt als die umliegenden Gipfel.

Unerwarteterweise ist das Rifugio Franchetti übers Wochenende bewartet und auch rege besucht, was für mich in einem hochwillkommenen Caffé resultiert. Im Winterraum deponiere ich Lebensmittel und Wasser für die folgende Nacht und steige bald schon wieder auf.

Corno Piccolo, Via Ferrata Danesi

Mein Weg führt mich zur Sella dei Due Corni und auf deren W-Flanke wieder kurz hinunter an den Einstieg der Via Ferrata Danesi am Fuss des Corno Piccolo. Diese führt durch zwei breite Rinnen hoch, welche jeweils nach links verlassen werden. So gelangt man zu einem glatten Elefantenbauch hoch, welcher dank zwei steilen Leitern einfach überwunden wird. Oben schlängelt sich der Weg in vergnüglicher Weise zwischen Blöcken durch bis zum höchsten Punkt. Insgesamt ca. 200Hm auf einem unschwierigen Klettersteig.

Der Abstieg verläuft über die Via Normale, deren Einstieg auf der NW-Schulter bei ca. 2950müM liegt. Sie führt mehrheitlich horizontal zum Ausgangspunkt zurück. Die Zweiteilung von Auf- und Abstieg ergibt eine wirklich lohnende Kombination, dennoch bleibt ein Helm wichtig. Zu Stosszeiten sollte man diese Routen meiden, was ich für heute bei der Theorie belasse. Dank der späten Jahres- und vor allem Tagsezeit hat es relativ wenig Leute unterwegs. An schönen Sommertagen müsse man für das Gipfelfoto jedoch Schlange stehen, wird mir gesagt.

Via Ferrata Brizio

Ein kurzer Aufstieg gegen die Sella dei due Corni führt zum Weg, welcher zur Via Ferrata Brizio hinüber führt. Diese stellt für mich ein weiteres Fragezeichen dar. Auf der Karte verläuft sie quert durch die NW-Flanke des Corno Grande hinüber zur Sella del Brecciaio, und ich frage mich, was es da wohl mit der Via Ferrata auf sich haben mag. Aus der Ferne lassen sich die technischen Schwierigkeiten nicht abschätzen, doch von Einheimischen wurde mir vage erklärt, dass es steile Passagen über Leitern zu bewältigen gebe.

Schon bald stehe ich unter der Schlüsselstelle — zusammen mit fast zehn anderen. Über eine steile Doppelleiter müht sich eine Gruppe hinab, und wie üblich treffen treffen die scharfen Blicke der Wartenden auf das bemitleidenswerte Schlusslicht. Gemeinsam begaffen wir das Spektakel, und nach dessen Beendigung lassen mir die Wartenden netterweise den Vortritt. Mit Vollgas spurte ich hoch, um ihr Vertrauen in mich nicht zu enttäuschen. Die Leitern sind tatsächlich steil und anspruchsvoll. Weiter oben traversiert der Weg auf breiten Terrassen ohne nennenswerte Schwierigkeiten zur Sella.

Von jenem lauschigen Plätzchen führt ein steiler Pfad durch den südwestlichen Geröllkessel des Corno Grande. Am Wochenende hatte ich ja ursprünglich das Hauptmassiv meiden wollen. Nun erlebe ich hautnah mit, aus welchen Gründen man diese Absicht beherzigen sollte. Ein bunter Zirkus zieht in beide Richtungen. Hoch geht es deutlich beschwerlich, hinunter hängt sich ein spätberufener Trailrunner an meine Fersen und fliegt förmlich an mir vorbei. Damit habe ich nun wirklich kein Problem, nur der effekthascherische Auftritt vor den langsamer hinterher folgenden Kollegschaft scheint mir gänzlich unnötig.

Drüben steige ich wieder zu meinem Wasserdepot hoch und beschwere den Rucksack wieder mit einigen Kilos, bevor ich erneut zum Sassone hochsteige. Im Gegensatz zum frühen Morgen steht die Herbstsonne hoch am Himmel, jedoch sorgen herumziehende Wolkenfetzen für eine zunehmend abenteuerliche Stimmung. Ganz besonders merkwürdig stimmt mich der Anblick von zwei Klettersteigdilettanten, welche mit leuchtenden Augen mein Materialdepot fein säuberlich auslegen. Auf die Farge, ob ich etwa störe, reagieren sie überrascht. Mein Einwand, dass sich solches Verhalten in den Bergen nicht zieme, erntet nacktes Unverständnis. Ich frage mich, was sie wohl mit meinem kostbaren Material angestellt hätten, das für sie völlig wertlos ist. Kopfschüttelnd und etwas verärgert stopfe ich die Ware in meinen Rucksack. Glücklicherweise ist alles vollständig, und entsprechend nimmt die Last auf dem Rücken zu. Im späten Nachmittagslicht breche ich zum dritten und letzten Mal an diesem Tag auf ins Ungewisse.

Via Ferrata Bafile

Nach Überquerung einer Flanke traversiert man über teilweise ausgesetzte Felspartien, wo ich mich gerne ins Kabel einklinke. Von der Felsschulter, dem „Belvedere“, führt ein steiler Abstieg über Leitern hinunter zur Grande Comba, einem eindrücklichen Geröllfeld, das meine Charakterisierung des Corno Grande erneut bestätigt. Inmitten von Nebelschwaden im sinkenden Licht fühle ich mich sehr klein in dieser riesigen Einöde. Zudem frage ich mich, wo um alles in der Welt wohl der erwartete, einfache Weg in Richtung Gipfel hochziehen soll.

Ein letzter, abrupter Abstieg in eine Rinne hinab reisst mich aus meinen Gedanken, denn die Kraxelei verlangt einen Teil meiner langsam schwindenden Aufmerksamkeit. Dabei entgeht mir eine wesentliche Information, aber davon weiss ich ja nichts. Drüben geht es zur von Weitem sichtbare Felsnaht hoch, welche sich von nahem als Verschneidung präsentiert. Der Aufstieg führt über plattigen Fels mit nicht wenig Potential für Steinschlag direkt zur Gratschulter hoch, wo die rote Biwakschachtel in der Abendsonne leuchtet.

Dahinter bricht das Gelände über hundert von Metern tief weg, und nach oben hin erstrahlen die Südwände des Corno Grande in edlem Grau und warmen Sandtönen. Trotz der ausgesetzten Lage hat der Ort nichts Bedrohliches, sofern man sich dem Abgrund nicht zu sehr nähert. Der gemütliche Charakter zeigt sich auch im Innenleben des Biwaks. Ich war unsicher gewesen, ob überhaupt Matratzen vorhanden sind. In Tat und Wahrheit gibt es acht ausgerüstete und ziemlich saubere Schlafplätze mit Decken. Dazu haben die zahlreichen Besucher haufenweise Lebensmittel da gelassen — vermutlich in wohlmeinender Absicht, vielleicht aber auch weil sie kein Wasser vorfanden und das Zeug nicht mehr hinuntertragen wollten. Zur Auswahl stehen je etwa ein halbes Dutzend verschiedener Risotto-, Penne- oder Linsengerichte. Und selbstverständlich eine fast ebenso grosse Auswahl an Caffé, inklusive Moka und Gaskocher. Herz, was willst du mehr? Vielleicht, dass der Gaskocher funktionieren würde, aber das kriege ich auch noch hin.

Selten noch habe ich an einem spektakuläreren Ort genächtigt! Die Nacht ist mild und ruhig, der Anblick des Sternenhimmel überwältigend. Meine innere Unruhe wegen dem Verlauf des Weiterwegs verschiebe ich auf den nächsten Tag.


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