2022-10-17 Corno Grande, Calderone Highway, Ostgipfel

Spektakulärer Höhepunkt, beginnend mit einem wunderschönen Sonnenaufgang auf dem Bivacco Bafile. Die Verhältnisse sind perfekt, und so mache ich mich auf die Suche nach dem Einstieg zum Aufstieg. Es soll ein ziemlich einfacher Weg direkt zur Forchetta del Calderone hochführen, aber weder über die zu erwartenden Schwierigkeiten noch über den genauen Verlauf habe ich verlässliche Informationen gefunden. Im Kartenwerk steht T5, was sich jedoch nicht mit den wenigen Erfahrungsberichten deckt, welche ich gelesen habe. Am Vortag hatte ich intensiv nach Möglichkeiten Ausschau gehalten, vom oberen Rand der Grande Comba in die Felsen hochzusteigen, machbar sah es jedoch nirgends aus. Auch vom Biwak aus konnte ich keine einladende Linie ausmachen.

Calderone Highway

Diese Bezeichnung habe ich gewählt für die spektakuläre Überschreitung vom Bivacco Bafile hoch zur Forchetta del Calderone und danach über die nordseitige Terrasse zur Via Gualerzi hinüber und über jene hinunter zum Calderone-Kessel. Von Anfang bis Schluss T6, Abseilerei mit 40m Seil, Helm und gute Nerven.

Nach einem letzten Caffé steige ich dem Klettersteig entlang zurück und suche dabei die Bergseite ab — erfolglos. Schon erklimme ich die Leiter, welche zur Comba hinüber führt, als ich im Vorbeigehen den weiteren Verlauf der soeben überquerten Rinne mustere. Könnte es sein? — Tatsächlich! Weiter oben leuchten einige unscheinbare, gelbe Punkte. Tags zuvor war ich nur auf den Schlussaufstieg zum Biwak fixiert gewesen und hatte diesen Einstieg prompt übersehen.

Ein tiefer, felsiger Einschnitt führt steil nach oben, und gleich zu Anfang gilt es eine erste Kletterstelle zu überwinden. Vielleicht bin ich von einer Vorahnung angespannt, doch auch im Nachhinein betrachtet finde ich dieses „Eintrittsbillet“ nicht ganz einfach, etwa II+? Immerhin ist die Stelle nicht ausgesetzt.

Darüber wird das Gelände sofort einfacher, und man steigt recht unbeschwert in einer breiten Verschneidung hoch. Nach oben hin verengt sie sich wieder und zieht zu einem markanten Einschnitt hoch, den man allzu leicht für die angepeilte Forchetta halten könnte. Unmittelbar darunter wartet die zweite Schlüsselstelle, wo sich die Rinne schliesst, und über die linke Wand verlassen werden muss. Ähnlich wie unten ist die Schwierigkeit recht anregend, die Passage jedoch nicht ausgesetzt.

Darüber stellt man fest, dass es sich bei der vermeintlichen Forchetta um einen kleinen Sattel handelt, hinter welchem man absteigt, um schliesslich zum angestrebten Einschnitt hochzusteigen. Es ist kein pompöses Ziel; von rechts drücken die Felsen des Torrione Cambi, und nach links ragt ein Zahn aus kleinsplittrigem Fels empor, hinter dem sich der Grat zum Westgipfel hinüber zeigt, welcher mit vielen weiteren Zähnen gespickt ist. Etwas verloren fühle ich mich an dieser Stelle, wo sich Sonne und Kälte scheiden. War der Aufstieg durch die Südflanke ein rassiges und gleichwohl insgesamt eher mildes Unterfangen gewesen, erwartet einen die eisige Atmosphäre des Calderone-Kessels. Tief unten lugen die verbleibenden Eismassen unter Schuttmassen aus dem Gletschertopf hervor, umringt vom steilen Felsgemäuer. Weit oben hocke ich einer der vielen Scharten und überwinde langsam das Zögern gegenüber dem Weitergehen ins Ungewisse.

Wie würde sich die nordseitige Traverse anlassen? In welchem Zustand würden sich die Abseilstände zeigen? Würde mein Seil ausreichen? — Die Fragen zeigen, dass ich neugierig auf Antworten bin. Da sich jene eine nach der andern zeigen werden, kann ich hingehen und schauen, „wie es tut“. Zwischen den einzelnen Unsicherheiten erkenne ich keine Abhängigkeiten, solange ich nur sicherstellen kann, jeden Schritt auch wieder rückgängig zu machen. Insbesondere muss der Rückzug möglichst lange offen bleiben: Über die soeben erklommene Südflanke liesse sich mit ausreichender Vorsicht problemlos absteigen, auch ohne Steinschlaggefährdung des darunter verlaufenden Klettersteigs. Tageszeit und Wetterverhältnisse scheinen unkritisch. Auf dem Weiterweg gilt es peinlich darauf zu achten, dass ich jede Passage auch wieder abklettern kann, denn hoch geht immer einfacher als runter. Insbesondere darf auf der Platte kein Schnee oder Wassereis liegen. Schliesslich muss ich beim Abseilen — wenn denn überhaupt dafür eingerichtete Stände vorhanden sind — die Möglichkeit offen halten, wieder hochzusteigen. Ist das Seil einmal eingezogen, wäre ein Hochklettern nur noch notdürftig gesichert möglich, immerhin aber nicht vollständig ausgeschlossen.

Vorsichtig taste ich mich nordseitig durch die schmale, brüchige Rinne hinab, welche direkt in den Gletscherkessel abzubrechen scheint. Ganz so arg wird es doch nicht, denn schon nach wenigen Metern erreicht man ein Podest, von welchem eine kurze Kletterei zur grossen Terrasse hochführt. Darunter bricht die Wand zwar schon 200hm tief weg, jedoch spürt man die Ausgesetztheit nicht — man fühlt sie nur. Die Kletterei entspricht etwa den beiden Schlüsselstellen auf der Südseite.

Darüber steht man auf dem Balkon, welcher die Nordflanke des Torrione Cambi durchzieht. Das makellose Bild, welches man von weitem sieht, zeigt sich aus der Nähe erstens steiler als erwartet und zweitens mit (Wer hätte es erwartet?!) Schotter bedeckt. Einzelne Stellen sind — oh Schreck — mit Schnee bedeckt. Vorsichtigst „tüüsele“ ich weiter, jeden Schritt dreimal durchdenkend, nämlich vorwärts, rückwärts und danach nochmals rückwärts. Man folgt Risspuren auf der zunehmend steiler und nackter werdenden Platte, bevor man wieder sicheres Schottergelände erreicht.

Am anderen Ende durchatmen, umherschauen, Eindrücke und Gedanken sammeln! Die Verschneidung der Via Gualerzi ist eindeutig, und unzweideutig schottrig ist sie auch. Gran Sasso halt! Auf den zweiten Blick erspähe ich auch den ersten Abseilstand. Selten so gefreut über ein im Fels verankertes Schlingengewirr! Sorgfältig montiere ich die ganze Ausrüstung: Klettergurt, Schlingen, Karabiner, Abseilgerät, Seil — und vor allem den Helm. Endknoten ins Seil gebunden!

Beim Begriff Abseilfahrt stellt man sich vielleicht einen beschwingten Ausflug vor, etwas zwischen Blustfahrt und Kettenkarussell. Sicher aber nicht ein verkrampftes Hinuntertasten über steilen Schotterfels an einem Jo-Jo-Faden baumelnd. Nur ja kein loses Seil über Kopfhöhe und keine Pendler! Wo ist bloss der nächste Abseilstand, und wie kann wohl das Seil eingezogen werden, ohne im Steinhagel zu stehen?

Knappe 40m weiter unten findet sich auf der Aussenseite der Verschneidung ein kleines Band unter einer steilen Felswand. Der Stand ist dort vom Steinschlag geschützt, und da die Seillänge passt, ziehe ich das Seil ab. Fröhlich sausen Steine an mir vorbei, und das Seilende bringt noch ein mehr Rieselregen mit sich. Die nächste Seillänge* ist ähnlich, aber unten ist der Stand mehr auf der Innenseite der Verschneidung. (* Wenn ich mich richtig erinnere, waren es nur zwei Längen, es können jedoch auch drei gewesen sein.)

Der letzte Abseilstand stellt mich vor Rätsel. Wenige Meter darunter befindet sich ein zweiter, älterer auf einer Platte, von dort jedoch führt die Fallinie in eine schauderhaft brüchige, grobblockige Rinne. Alternativ ziehe ich in Betracht, den plattigen Vorbau zu traversieren, um weiter drüben nach einem Abstieg zu suchen. Bei der Erkundung erweist sich das Gelände jedoch als äusserst schottrig (Überraschung?!) und nicht so einfach begehbar. Also doch direkt hinunter!

In diesem letzten Schlund kommt alles zusammen, was man beim Abseilen vermeiden will. Zuerst ein Fussabstieg durchs Geröll und dann der Einstieg von der Seite, das 6mm-Einfachseil oben über eine Kante laufend, eine auszuspreizende Rinne, die nach innen zunehmend überhängt, angefüllt mit grossen, losen Blöcken. Alles angerichtet, null Reserve. — Vorsichtigst wäge ich jede Bewegung ab und krieche langsam hinunter. Das leiseste Beben könnte die Blöcke in Bewegung versetzen.

Unten schnell raus aus der Rinne und hinter der senkrechten Seitenwand verbergen! Drei Dinge machen mich stutzig. Erstens bin ich nicht der erste an diesem Ort — jedoch war einer meiner Vorgänger zum letzten Mal hier, wie die Plakette am Fels zeigt. Zweitens gibt es dort keine Standhaken, obwohl die Abseilerei noch weitergeht. An der Spitze eines Felsblocks kann ich mit einer Schlinge gut improvisieren. Drittens aber — und das ist nun wirklich schlecht — lässt sich das Seil nicht einziehen, sosehr ich mich auch abmühe. Vermutlich reibt es zu stark gegen die Felsplatte. Hätte ich bloss den oberen Stand benützt!

Es bleibt mir nichts anderes übrig, als dem Seil entlang hochzusteigen — durch den üblen Bruch. Einfach genug ist das Gelände ja, und im Aufstieg lassen sich die brüchigen Zonen sogar besser umgehen als am Seil hängend. Oben verbessere ich den Stand und stürze mich erneut ins „Vergnügen“. Auch beim zweiten Mal klappt es ohne Schaden an Mensch oder Material, und das Seil lässt sich nun einziehen.

Jetzt nur noch ein letztes Mal hinunter! Auch hier ist das Gelände stellenweise fürchterlich brüchig. (Wer hat gesagt: „No news is good news“?!) Ich beschliesse, nicht weiter über meinen improvisierten Stand nachzudenken, versuche aber trotzdem möglichst keinen Pendler zu produzieren. Der finale Satz führt rund fünf Meter senkrecht hinunter und endet auf der Geröllhalde unter einer Felswand. Immerhin ist man hier wieder vor Steinschlag geschützt, was vor allem dann wichtig wäre, wenn sich das Seil einziehen liesse. Bange rupfe ich am Faden und hoffe, dass der Escaper nachgebe.

Endlich die Erlösung! Mit einem letzten Gruss vom Erósion, dem Gott der Verwitterung, fliegt mir alles zu bzw. über mich hinweg. Andernfalls hätte ich das Seil aufgeben müssen. Seil büscheln, Material sortieren, Nervenkostüm glätten, und durch die steilen Geröllflanken hinüber zum Rand des Gletschertopfs und in die Sonne! Durchatmen, zurückschauen, „Znüni näh!“, schliesslich ist bald Mittag. Auch im Rückblick kann ich nicht sagen, wo der beste Abstieg durch führen würde. Sowohl meine direkte Linie als auch das Hinausqueren nach Norden findet sich in Beschreibungen, allerdings jeweils mit frühsommerlicher Firnauflage im unteren Teil.

Der Abstiegsweg vom Gletscher führt zuerst leicht aufsteigend in Richtung des Passo del Cannone, bevor er über die steile Schutthalde hinunter zum Rifugio Franchetti führt. Daneben lockt jedoch ein gut ausgetretener Pfad direkt hinunter. „Logisch, dass ich die nehme!“ frohlocke ich, und nur ganz leise regt sich in mir ein vorsichtiger Einspruch, dass alpine Abkürzungen im unbekannten Gelände selten eine gute Idee sind. Unbeschwert steige ich ab, auch als die Pfadspur zunehmend undeutlicher wird. Immerhin hat es noch einen letzten Steinmann in einem Sättelchen, hinter welchem sich jedoch keine Fortsetzung erkennen lässt. Ende Gelände also? Hinter einem riesigen Felsblock kann ich durch eine Rinne absteigen, bevor ich am Fuss der Felsen wieder zurück quere. Zu meiner Überraschung stosse ich auf einen gemauerte Unterstand mitten im Nirgendwo. Dahin führte als die Wegspur!

Insbesondere führt die Wegspur nicht zur Hütte hinunter. Also wieder aufsteigen oder auf eigene Faust traversieren. Ich entscheide mich fürs Oder und arbeite mich über die nackte Geröllhalde. Man sollte nicht vergessen, dass diese steilen Flanken exakt jene Neigung aufweisen, in welcher sie gerade noch stabil sind oder — besser gesagt — noch nicht instabil. Rock’n Roll vom Feinsten wird da geboten, und ich bin erleichtert, als ich endlich auf dem Normalweg ankomme. Bald darauf erreiche ich das Rifugio Franchetti und verstaue mein Kletterzeug. Es ist erst kurz nach Mittag, und das Wetter weiterhin perfekt stabil, also auf zum nächsten Abenteuer!

Corno Grande, Ostgipfel

Vom Rifguio Franchetti traversiert man wenigen Minuten zum Einstieg der Via Ferrata Ricci. Sie zieht in einem weiten Bogen zum Ostgipfel hoch, und der Abstieg zum Calderone-Kessel vervollständigt den Kreis bis zum Rifugio Franchetti zurück. Es handelt sich um einen langen, sehr schön angelegten und gut abgesicherten Klettersteig in abenteuerlicher Umgebung.

Auch hier liegt im unteren Teil viel Geröll herum, und der Weg vermeidet Steinschlaggefahr soweit möglich, indem er stets leicht nach links zieht. Trotzdem fühle ich mich hier wohler alleine ohne die Horden des vergangenen Sonntags. Nach Erreichen der Nordkante folgt man ihr und blickt über eindrücklichen Felswänden zweitausend Meter in die Tiefe. Abgesehen davon ist der Aufstieg bis auf einige kurze Stellen wenig aufregend. Aufquellende Wolken verleihen der grosszügigen Stille dieses Nachmittags einen zusätzlichen Hauch von Bergabenteuer.

Vom Sattel zwischen dem Vorgipfel und dem Schlussaufstieg ziehen zwei Abstiegsmöglichkeiten hinunter. Die untere ist neuer und sehr gut eingerichtet; die ältere oben sollte nicht mehr begangen werden, insbesondere wenn sich Leute unter einem befinden. Zumindest habe ich den Hüttenwart am Vortag so verstanden. Da ich sowieso der letzte bin am heutigen Tags, spielt es für mich keine Rolle. In der Tat kreuze ich jedoch zwei Alpinisten im Abstieg, als ich auf den Gipfel steige. Die Verhältnisse laden dort nicht zu längerem Verweilen ein, sodass ich alsbald wieder kehrtmache und die beiden bald ein- und überholt habe.

Der Abstieg läuft schnell und einfach; nur ganz zum Schluss ist eine steile Wand abzuklettern, bevor man wieder auf der (na, was wohl?!) Geröllhalde über dem Calderone-Gletscher ankommt. Diesmal traversiere ich zum Kanonenpass hinüber und steige via der Sella dei due Corni zur Hütte ab, um noch den morgigen Aufstieg zu erkunden.

Auf der Hütte dann erst einmal Kaffee kochen — nicht etwa Caffé, sondern ein währschaftes Kafi Schnaps. Vielleicht könnte man das auch als Caffé Corretto bezeichnen, zumindest versuche ich es dergestalt einem Pärchen Einheimischer anzupreisen, die zur Hütte hochgestiegen sind. Die beiden Alpinisti hinter mir treffen dann auch noch ein, und es wird laut auf der Hüttenterrasse. Noch heute staune ich darüber, dass ein einzelner Mensch eine geschlagene Stunden lang lauthals über Dinge sprechen kann, die niemanden wirklich interessieren, ohne dass irgendeiner der Umstehenden höflich, aber bestimmt zu einem anderen Gesprächsthema wechseln würde. Ich glaube, das ist ein Teil des Geheimnisses der Italianitá: Jeder redet über was er will, und die anderen hören gar nicht wirklich zu. — Habe ich damit gerade den italienischen Politikbetrieb beschrieben?

Als die Schatten des Abends aus dem Tal hochkriechen, verabschiedet sich die Runde, und ich bleibe in splendider Einsamkeit. Schon wieder leicht ausgenüchtert, mache ich mich ans Abendessen. Im Winterraum wartet ein Klappbett mit weicher Matratze, und alsbald schwebe ich hinüber ins Land der Träume.


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