Abschluss einer grandiosen Unternehmung! Noch ein drittes und letztes Mal auf den Westgipfel und dann noch die Trailschleife hinüber zum Pizzo d’Intermesoli und über den Pizzo Cefalone zurück. Erneut spektakuläre Landschaft, viel Stille, und bei perfekten Verhältnissen den Tag ausgeschöpft.
Auf dem Rifguio Franchetti verbrachte ich eine komfortable Nacht. Erfrischt und gestärkt mache ich mich bei erneut prächtigen Verhältnissen ein letztes Mal auf, denn morgen werde ich zurück reisen. Im frühen Morgenlicht erreiche ich die Sella dei due Corni und bewundere die herbstliche Fernsicht. Ich steige zum Passo del Cannone hoch, wo sich im Fels ein Schlund zeigt, kreisrund wie ein Kanonenrohr. Für einmal also kein kriegerischer Hintergrund. Einige hundert Meter dahinter zweigt die Via Normale ab, die durch die NW-Flanke gegen den Westgipfel hochzieht. Sie verläuft neben dem gerölligen Bereich in festem und feinem Kraxelgelände. Behende wie eine Gämse (damische Viecher, die!) eile ich hoch und erreiche bald den die Nonrdkante, wo mich die Sonnenstrahlen begrüssen. Eine kurze Rast direkt über dem Calderone-Gletscher, direkt gegenüber der Forchetta del Calderone bietet Gelegenheit, den gestrigen Abstieg nochmals vor dem geistigen Auge durchzugehen. Die grosse Terrasse hätte wirklich keine Bisschen mehr an Schnee vertragen! Was habe ich für ein Glück mit den Wetterverhältnissen!
Auch heute steht mir ein weiterer Prachtstag bevor. Bald habe ich den Westgipfel erreicht und blicke mich ein letztes Mal um. Im Süden der Sentiero del Centenario, der turmgespickte Grat zum Ostgipfel, im Norden der Corno Piccolo — und im Westen? Der Pizzo d’Intermesoli steht gegenüber des Val Maone, und etwas südlich davon zieht sich die lange Kette von Campo Imperatore über 15 km hinweg über den Monte Corvo erstreckt. Wäre das Wetter weniger perfekt gewesen, hätte ich mich wohl dort vergnügt. So aber werde ich sie wohl auslassen müssen.
Etwas wehmütig mache ich mich an den Abstieg über den Westgrat, der auch wieder einige nette Kraxelstellen aufweist. Ach, ich werde diese abenteuerlichen Tage vermissen! Der Westgrat ist schön lang und für viele sicher eine rechte Herausforderung. Ich mag mir nicht vorstellen, welche Szenen sich hier wohl in der Hochsaison abspielen. Vielleicht komme ich im Hochsommer einmal hierher mit einer Bauchlade voll Traubenzucker und Schoggistängeli. Das wäre ein Gaudi!
Immer noch frisch und munter strebe ich der Sella di Monte Aquila zu, von wo ich den Abstieg zum Campo Imperatore diesmal unfallfrei hinter mich bringe. Dort angekommen, lade ich alles Zeug in meinen Wohntransporter und genehmige mir einen schönen Caffé an der Bar. Welch eine Köstlichkeit! Und mit welcher Grandezza jeder Barrista überall in Italien das Werk hinstellt, wohl wissend dass der Euro Zwanzig kein Preis ist für die unbezahlbare Kunst, die darin steckt. Manchmal liebe ich dieses Land inniglich. Und dann schlagartig wieder nicht, wenn man die Toilette benutzen will und sich in die Schlange einreiht. Oder wenn man über den Parkplatz zum heruntergekommenen, splendiden Hotelbau hinüber geht, wo gerade die Verkaufsstände für Souvenirs, Leder und Plastikzeug aufgebaut werden. Ach ja, gern haben ist auch schon gut.
Es ist noch nicht einmal Mittag, und mein Vorhaben, den Tag entspannt zu geniessen, ist schon ins Wanken geraten. “Dolce far niente” im Lieferwagen auf dem Parkplatz kann ich mir nun gewiss nicht vorstellen. Ins Tal fahren und dort dann was? Wie wäre es, wenn ich noch eine kleine Wanderung machen würde und ganz locker die Beine vertreten würde? — Ja, wie wäre das wohl? Ich weiss es bis heute nicht, denn die Ideen haben schon begonnen, sich zu entspinnen. Kurz den Rucksack auf Minimalausrüstung trimmen, Wasser und Lebensmittel aufgefüllt, und schon geht es wieder los.
Im lockeren Laufschritt trabe ich hinüber zur Portella und zum Pässchen, das in einen kleinen Kessel über dem Campo Pericoli hinunter führt. Im beschleunigten Tempo laufe ich hinunter und auf der Gegenseite zunehmend steil zum Passo Cefalone hoch. Ich folge dem grosszügigen Sattel hinunter zum Passo dei Grilli, wo sich keine Insekten, sondern eine Herde Camosci aufhält. Ich warte, bis sich die Mistviecher davongemacht haben, bevor ich mich an den Aufstieg zum Pizzo d’Intermesoli mache.
Was der Name Intermesoli genau bedeutet, erschliesst sich mir nicht, aber der Klang hat etwas Vorübergehendes an sich, und das würde zur Felsqualität passen. Eigentlich hält hier gar nichts, das nicht zwischen grösseren Felsbrocken eingeklemmt ist. Auf gar keinen Fall sollte man hier in der Fallinie von anderen unterwegs sein. Glücklicherweise bin ich fast alleine unterwegs, und so ist auch der Kraxelaufstieg durch eine kurzes, weniger brüchiges Felsband zu wagen. Den flachen Schuttgipfel könnte man auch überschreiten, aber für heute steige ich wieder auf dem gleichen Weg ab und steige über das Grillenplateau nach Süden auf.
Es ist Mitte Nachmittag geworden, und vor mir liegt der Nordgrat des Pizzo Cefalone, der wohl ein weiterer Gras- und Schuttgipfel sein wird. Langsam spüre ich die Länge des Tages und das Fehlen von genügend Wasser und Esswaren. Wach halten die interessanten Kraxelstellen, mit denen der Grat bis zum Schluss aufwartet. Er zeigt sich zunehmend felsig und auch erfreulich fest. Auf dem Gipfel sind wohl diejenigen Kreuze aufgestellt, die auf der nebenanliegenden ehemaligen Cima della Croce keinen Platz mehr gefunden haben. Jene wurde seiner Heiligkeit Johannes Paul dem Zweiten zu Ehren umgetauft zu Cima Giovanni Paolo II. Seit ich das einmal vor langer, langer Zeit irgendwo gelesen hatte, blieb es in meinem Gedächtnis haften, und nun stehe ich daneben.
Den illustren Gipfel lasse ich jedoch rechts lieben und steige über einen anregenden Pfad zum Schnüerliweg in der steilen Südflanke hinab, auf dem mich ich beschwingt zu meinem Base Camp zurück schwebe. Mit Caffé, Birra, Fondue, Schnaps, Sonnenuntergang und einer letzten kalte Nacht im Lieferwagen schliesse ich das Gran Sasso Abenteuer ab.
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