2022-10-21 Gran Sasso, Nachbetrachtungen

Nachdenkliche Betrachtungen könnte man sie auch nennen. Vermutlich habe ich etliches davon schon andernorts erwähnt; in der Summe handelt es sich jedoch um eine runde Fülle an Erlebnissen und Begebenheiten. Italien ist immer ein Erlebnis, und der Gegensatz zwischen der Ewigen Stadt und den ländlichen Abbruzzen offenbart viel Erhellendes. Daneben ist Reisen immer ein Abenteuer, und mit dem Zug in Italien voller Überraschungen.

Planung

Wer die Götter zum lachen bringen will, der mache Pläne. Wer den Teufel zum grinsen bringen will, der gehe aufs Geratewohl ans Werk. — Irgendwie schien bei der Vorbereitung der Wurm drin zu sein, und ich kam über längere Zeit einfach nicht zu einem Ende. Die übers Internet veröffentlichten Informationen waren dürftig und teils widersrprüchlich. Ob die Hütten noch geöffnet hatten oder Winterräume zugänglich waren, konnte ich genauso wenig in Erfahrung bringen, wie, ob es auf Campo Imperatore Übernachtungsmöglichkeiten gebe, oder wie lange die Luftseilbahn ab L’Aquila noch fahren würde. So kam ich schliesslich unverhofft auf die etwas kühne Idee, ein Wohnmobil oder etwas Ähnliches zu mieten. Angesichts der Preis schwand die Ähnlichkeit zusehends und “kulminierte” in einem “furgone”, einem weissen Fiat Ducato Lieferwagen mit fensterlosem Aufbau.

Anreise

Planung und Anreise waren für sich allein schon eine Unternehmung. Am Donnerstagmorgen reisten wir aus den Familienferien auf Elba zurück und fuhren mit der Eisenbahn zunächst nach Rom, welches südlich von Elba liegt. Der Plan war, dass ich in Rom übernachten würde und meine Frau und unsere Tochter mit dem Nachtzug in die Schweiz zurückfahren würden. Bei der Anreise war das analoge Vorhaben in Mailand krachend gescheitert, weil der Zug noch nicht einmal in Turin abgefahren war, als er kurz vor Mitternacht schon längst in Mailand hätte sein sollen. Glücklicherweise konnte ich innert kürzester Zeit noch ein Zimmer über AirBnB buchen, damit wir die Nacht nicht im Bahnhof verbringen mussten. Denn der freundliche Beamte von der Eisenbahn betonte, dass die Verbindung noch nicht aufgegeben worden sie, und dass wir deshalb keinen Anspruch auf eine bezahlte Unterbringung hätten.

Entsprechend gespannt waren einige Nerven auf der Rückreise. Trotzdem verbrachten wir einige schöne Stunden in der ewigen Stadt, tranken den bei Sant’Eustachio den besten Caffé der Welt, genossen das bei Venchi das beste Gelato al Pistacchio und assen auf der schönsten Piazza Navona Znacht. Und diesmal waren die Ferrovie dello Stato d’Italia mit nur geringfügiger Verspätung zur Stelle.

In meinem AirBnB-Zimmer kam ich danach zu einigen Stunden Schlaf, bevor ich mich von einem Regionalzug nach Avezzano schaukeln liess. Ursprünglich hatte ich direkt nach L’Aquila fahren wollen. Das hätte jedoch viel länger gedauert, und zudem hatte ich keine Möglichkeit gefunden, dort einen Lieferwagen zu mieten. Einen solchen konnte ich in Avezzano für eine erkleckliche Summe mieten, und fortan galt: “My van is my castle!” (Kalt wie in einem Burgverliess im Winter waren die Nächte dann auch.) Im Nachhinein stellte sich heraus, dass ich mit einer scheinbar versandeten Anfrage in L’Aquila noch ein zweites Vehikel reserviert hatte, aber das liess sich im Land der herzlichen Zuvorkommenheit am Telefon bereinigen.

In meinem rollenden Schloss fuhr ich auf der Autobahn an L’Aquila vorbei und verliess sie kurz vor dem 10 km langen Tunnel, um anschliessend auf einer breiten Heeresstrassse durch Wälder und weite Hügel nach Piccolo Tibet hochzukurven. Selbst nach hundert Photos und mehr hatte ich mich noch nicht an der Szenerie satt gesehen. Bergkämme zeigten sich mit freilaufende Pferde und grasenden Bison- oder Kuhherden, und zum Schluss führte eine schnurgerade Strasse durch die weite Prärie, die sich am Rand in einigen engen Kurven steil nach oben fädelt.

Campo Imperatore

Welch absonderlicher Ort! Auf einer weiten Geländeschulter schwenkt man auf einen grossen Parkplatz ein, der im Süden von einem backsteinrot bemalten, kubistisch runden Hotelbau dominiert wird. Funktional und elegant, aber auch isoliert und brutal steht es inmitten einer einmaligen Landschaft. Der erste Gedanke gilt dem Urheber und damit der Frage, ob dieser Bau von Mussolini in Auftrag gegeben worden sei. Das Hotel wurde 1934 zusammen mit der ersten Seilbahn durch die faschistische Führung erbaut. Mit dem “duce” steht das Hotel in Zusammenhang, weil jener nach seinem Sturz dort gefangen gehalten worden war, bevor er im September jenes Jahres durch eine deutsche Kommandoaktion befreit wurde.

Neben dem Hotel steht die Bergstation eines modernen Sessellifts, und auf der anderen Seite endet die neue Seilbahn in einem futuristisch modernen Gebäude. Daneben stehen die alte Seilbahnstation sowie ein Gasthaus in traditioneller alpiner Steinbauarchitektur. Darin befindet sich zu meiner freudigen Überraschung eine geöffnete Bar im laut Eigenwerbung höchstgelegenen ganzjährig geöffneten “ostello” Europas. Hätte ich das gewusst, hätte ich mir einige kalte Nächte ersparen können!

Etwas oberhalb der ganzen Anlage befindet sich das Observatorium, das offensichtlich von der abgeschiedenen Lage in Kombination mit guter Erreichbarkeit profitiert. Hoch über dem ganzen thront das 1908 errichtete Rifugio Duca degli Abruzzi auf der Krete des Monte Portella. Was für ein Ensemble!

Leute

Als wahrlich herausragende Eigenschaft des Gran Sasso lässt sich festhalten, dass er langsamer zerbröckelt als der Rest der Abruzzen. Überall liegt haufenweise Schotter herum! Sobald andere Menschen in der Nähe sind, besteht dringende Helmpflicht — auch auf vermeintlichen Wanderbergen wie bspw. dem Pizzo d’Intermesoli. An Wochenenden und in der Hochsaison würde ich das Gebiet eher meiden. Glücklicherweise hat es Mitte Oktober nur noch wenig andere Leute unterwegs. Mir fällt auf, dass sich die Nationalitäten auch am Geruch unterscheiden. Was bei den Schweizern die Sonnencrème, ist bei den Italienern Deo bzw. Parfum — je nach Geschlecht. Ich war jedoch fast der einzige Tourist unter lauter Einheimischen. Es war ein erfrischender Unterschied zu der Woche zuvor auf Elba.

In den eher ländlichen Abruzzen zeigen sich auch weitere erfrischende Seiten von Italien, die an vergangene Zeiten erinnern. Fährt der Regionalzug durch Avvezano, sperren Barrieren den Verkehr ab, und man hat das Gefühl, das Bähnlein müsste gleich noch zu bimmeln beginnen. Daneben hievt ein Metzger eine Rinderhälfte aus einem “furgone” auf seine Schulter und transportiert sie ins Geschäftslokal. Ebenfalls aufgefallen sind mir die bedienten Tankstellen. Das mag vielleicht mit einer grösseren Achtung gegenüber dem fahrenden Untersatz zu tun haben; ganz ausreichend finde ich das jedoch nicht als Erklärung.

Noch grössere Zuwendung wird in diesem Land natürlich dem Caffé geschenkt. Nirgendwo sonst gibt es eine derart tief verankerte Hingabe zum Getränk der Götter. Auf derselben Stufe steht höchstens noch der Drang, stets “bella figura” zu machen. Kaum anderswo ist eine ähnliche Gleichgültigkeit vorstellbar gegenüber Restauranttoiletten, Bahnhofsrolltreppen, Trottoirs und praktisch allen anderen Angelegenheiten des öffentlichen Lebens, die mit Unterhaltsarbeit verknüpft sind. Ist es mangelnde Finanzierung? Dann müsste man von naiver Planung sprechen! Ist es grundsätzliches Desinteresse? Ich glaube, im Lauf der Zeit führt ersteres wohl zu letzterem. Deshalb ist das gewöhnliche Leben nur mit jener “grandezza” zu ertragen, mit welcher selbst in der abgelegensten Bar der “barrista” einen perfekten Caffé hervorzaubert, selbstverständlich verbunden mit dem Angebot eines “bicchiere d’acqua”, wobei man zwischen “liscio” und “frizzante” wählen kann. Mit einem unnachahmlichen “Ecco ti qua, signore!” präsentiert, kostet das Meisterwerk einen sagenhaften Euro.

Ein “barrista” ist ein Künstler des Alltags, und jeder seiner Auftritte soll auch unterhalten. Unterhaltung im Alltag ist wohl auch ein Überbegriff zu “bella figura”. Der Unterhalt hingegen als stetige Mühsal steht weniger im Vordergrund. Bevorzugt werden neue, aufregende Projekte in Angriff genommen. Was kümmern die Unzulänglichkeiten des bestehenden, wenn ein neuer Wurf im Entstehen ist. Selbstverständlich wird er noch bessere Figur machen! “Da capo al fine!” denkt sich der typische Nordländer — d.h. nördlich des Alpenbogens lebende.

Bauwerke

Die Station Roma Tiburtina ist ein solch derartiger Wurf. Funktional und futuristisch zugleich, soll sie wohl die Idee eines klassischen Bahnhofs mit seinen Unterführungen und jene eines Fughafenterminals mit grosszügigen, himmelstrebenden Dimensionen vereinen. Erreicht wird das mit einem zweistöckigen Überbau, dessen oberes Geschoss doppelte oder dreifache Höhe aufweist. An der Decke sind nichtkubische Raumelemente befestigt, die als Pods vom Himmel hängen (“2001” lässt grüssen) und stehen für exklusive Angebote wie Business-Lounge oder aktuell auch eine Kunstausstellung (“The World of Banksy”) zur Verfügung. Ihre Abgrenzungen ragen durch die Gebäudehülle hinaus und geben einen einmaligen optischen Eindruck ab. “Bella figura!”

Das Platzangebot wurde dadurch vergrössert, dass die Achse des Gebäudes nicht senkrecht zu den Gleisen verläuft, sondern in einem Winkel von 60° bzw. 120° (oder mutmasslich dem goldenen Schnitt im Bogenmass). Damit lassen sich 10 bis 15 Prozent mehr wertvolle Gewerbefläche generieren. Allerdings verlängern sich auch die Gehwege beim Umsteigen um denselben Faktor. Als italienerprobter Reisender erträgt man das ohne Murren und dazu noch im Wissen, an etwas Grossartigem teilhaben zu dürfen. Die Römer gehen ganz selbstverständlich von diesem Grundsatz aus und zwar schon seit gut zwei Jahrtausenden. Man mault auch nicht, wenn man beim stundenlangen Warten auf einen Anschluss keinen einzigen Sitzplatz findet, der nicht zu einem Konsumationstempel gehören würde. Eigentlich passt das ja gar nicht schlecht, endet jedoch um 23 Uhr, wenn mit der amerikanischen Fast Food-Kette auch das letzte Lokal schliesst.

Reisen

Bis zur Abfahrt des Nachtzugs nach Mailand darf man sich auf der einzigen frei zugänglichen Treppe einrichten, wenn man nicht stehen will. Dabei bekommt man unglaublich viele Durchsagen zu hören. Zugsankünfte werden grundsätzlich zusammen mit dem immergleichen Hinweis angekündigt, dass man von der Sicherheitslinie zurückstehen solle. Zu Stosszeiten wird einem diese Verhaltensregel richtiggehend eingebleut, bis man nicht mehr hinhören mag. Damit würde man jedoch die Verspätungsmeldungen verpassen. Auch diese werden ständig wiederholt, was an sich recht sinnvoll ist. Auch entbehrt es nicht einer inneren Logik, wenn derselbe Zug dreimal ausgerufen wir, wenn beim ersten Mal die Lokomotive noch nicht bereit ist, beim zweiten Mal ein langsamerer Zug voraus schleicht, und beim dritten Mal eine allgemeine Störung des Bahnverkehrs vorliegt. Was sich alles zugetragen haben mag, dass diese Meldungen nahtlos hintereinander erfolgen, kann man sich jedoch einfach nicht vorstellen. Hingehört hat jedoch — abgesehen von mir — wohl niemand.

Überhaupt würde in Italien etwas Fundamentales fehlen ohne eine gewisse Geräsuschkulisse. So auch beim Warten auf die Einfahrt eines Regionalzug in einen Provinzbahnhof, dessen nahende Ankunft minutenlang durch permanentes Bimmeln einer Glocke angekündigt wird. Hat der Lärm aufgehört, fährt der Zug dann tatsächlich früher oder später auch ein. Im Zug selber erfolgt gefühlt alle zehn Minuten eine lautstarke Durchsage, dass Beleidigungen gegen Schaffner von Amtes wegen verfolgt würden.

Eine halbe Stunde vor der Abfahrtszeit mache ich mich auf den langen Marsch zum Perron. Auf den elektronischen Abfahrtsanzeige wird mir Gleis 17 angezeigt. Als ich die Rolltreppe hinuntersteige erhasche ich einen Blick auf die Anzeige auf den Perron von Gleis 16 gegenüber und sehe, dass dort mein Zug ausgeschrieben ist. Noch einmal Glück gehabt. Schnell wieder hoch und drüben runter! Viele Leute warten schon dort; es ist windig und kalt. Da ich jetzt weiss, wo der Zug fahren wird, begebe ich mich wieder nach oben zum Pod mit der geschlossenen Business-Lounge, um wenigstens in der Wärme zu warten. Eine gute Viertelstunde später mache ich mich gemütlich wieder auf den Weg, stelle dann allerdings recht beunruhigt fest, dass keine Leute mehr auf dem Perron stehen. Auf dem Gleis gegenüber steht ein Nachtzug. Das wird doch nicht etwa…? Ich stürze mich die Rolltreppe hoch, und erreiche die auf Gleis 17 hinunterführende gerade rechtzeitig, um die Lautsprecherdurchsage mit dem Gleiswechsel mitzukriegen.

Wenn man die Bosse von Trenitalia zum schmunzeln bringen will, dann hege man irgendwelche Erwartungen an das Angebot wie bspw. eine effiziente Lüftung in einer Schlafwagenkabine für sechs Personen. Als ich einsteige, fläzen sich schon drei kräftig gebaute Männer auf ihren Liegen, und der letzte freie Platz ist oben, wo der Luftzug des geöffneten Fensters hinbläst. Von Rom bis Mailand atme ich die Luftschicht einmal quer durch, bis ich kurz nach 7 Uhr gut durchgelüftet in Mailand aussteige.

Nach einem kurzen Stadtbummel in Mailand mit Besuch des Doms mache ich mich auf die Heimreise. Der Regionalzug nach Lugano ist gestossen voll, und ich bin auf alles gefasst, ausser auf eine störungsfreie Fahrt mit pünktlicher Ankunft, als die sie sich dann herausstellt. Im Eisenbahnland Schweiz geht es reibungslos weiter, und der Intercity-Zug bleibt heute auch nicht im Gotthardtunnel stecken. Meine Augen saugen sich an den klaren Seen und saftigen Wiesen fest und die Berge sind festlich geschmückt im spätherbstlichen Kleid.

(M)unterwegssein

Was machen solche Reisen mit mir? Ich bin gern unterwegs und erlebe kleine Abenteuer und Überraschungen. Die zufällige Entdeckung von Tivoli und der Stadtbummel durch Mailand liessen die simple Rückreise zu einer eigentlichen Grand Tour werden. Nach den guten Abenteuern der vergangenen Tage war ich richtig euphorisch gewesen, doch mein Körper sandte deutliche Signale, dass es gerade gut reiche. Entzündete Wunden, empfindliche Gelenke und nach fünf Tagen das nachdrückliche Verlangen, Wasser auch wieder einmal äusserlich anzuwenden. Die Segnungen der Zivilisation lassen sich viel bewusster annehmen und schätzen, und die kleinen Widrigkeiten des Alltag einfacher ignorieren.


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