2023-04-17 Canigó, Zustieg aus dem Vallespir

Zustieg durch einsame Wälder zum Refuge des Estables (14km+1100Hm, B0). Die zweite grosse Überraschung kommt bei der Hütte …

Die erste Überraschung geschah bei der Anfahrt aus Katalonien. Auf dem Parkplatz des Supermarché in Céret schaffen wir es, den Autoschlüssel im Mietauto einzuschliessen. Glücklicherweise kann uns der TCS einen lokalen Pannendienst organisieren; allerdings müssen wir uns auf eine längere Wartezeit gefasstmachen. Immerhin kann ich dann meine Kenntnisse im Autoknacken auffrischen. So wird es fast 16 Uhr, bis ich zuhinterst im Vallespir, dem Tal des Tech, ankomme. Die Hauptstrasse würde ins katalonische Molló hinüberführen.

Von einer mittelalterlichen Stadtmauer eingefasst, macht das Städtchen Prats-de-Mollo-la-Preste macht einen verschlossenen Eindruck. Durch schattige, verwinkelte Gässchen suche ich einen Weg zum anderen Ende. Plötzlich stehe ich auf einem Platz, wo Leute am Tisch sitzen und Sonne und Wein geniessen. Im Innern der verschlafenen Ortschaft finden sich belebt Gassen mit okzitanischer Gemütlichkeit. Die Stadtmauern wieder hinter sich gelassen, verschliesst sich diese Welt hinter einem, und ich fühle mich wie ein Reisender im finsteren Mittelalter, der den Schutz der städtischen Ordnung hinter sich gelassen hat und auf seinem Weiterweg auf sich selber gestellt ist.

Ganz so bedrohlich wird der Tag natürlich nicht, auch wenn jeder Schritt ins Unbekannt führt. Schliesslich ist das mein allererster Besuch der Pyrenäen. Ein alter Pfad steigt über frühlingshafte Wiesen und an blustbestandenen Sträuchern und Bäumen vorbei, während zuhause der Winter erneut Einzug gehalten hat. Bald verschwindet der Talboden aus dem Blickfeld, und eine lange Querung führt ins Tal der Pacrigoule. Zuhinterst verläuft in der Flanke ein Pfad direkt zum Refuge hoch. Anfänglich folgt er eine alten Wasserleitung. In der Schweiz würde man von Suone oder auch Bisse sprechen. Hier trägt sie den Namen Canal du Miracle, und ich balanciere fröhlich über seine Mäuerchen, bis ich sein Ende erreicht habe. Dort wird aus dem Wunder blanke Verwunderung, denn der beabsichtigte Weg wäre viel früher schon abgezweigt.

Mit verringerter Fröhlichkeit setze ich über den munter sprudelnden Fluss und steige über eine sehr steile Flanke aus dem Bachbett. Bald treffe ich auf die Fahrstrasse, welche sich in weiten Schlaufen hochwindet, und die ich gerade aus diesem Grunde vermeiden wollte. Aufs Geratewohl nehme ich eine Abkürzung ein, frage mich jedoch bald schon, ob das eine gute Idee war. Eine Schneise führt horizontal durch den Wald und hört unvermittelt auf. Auf Wildwechseln schlage ich mich weiter durch den lichten Baumbestand und stosse zu meiner freudigen Überraschung auf einen alten Pfad, welcher über den Gratrücken hochzieht.

Kurz vor der Hütte lassen die tief liegenden Wolken erste Tropfen fallen, was jedoch das einzige Zeichen von Feuchtigkeit ist. Denn die Bächlein in der Nähe des Refuge sind alle ausgetrocknet. Die Dürre zeigt sich schon im Frühling mit aller Deutlichkeit. — Das ist jedoch beileibe nicht das einzige Problem. Viel gravierender noch ist die Tatsache, dass die Hüttentüre verschlossen ist. Nutzlos ist alles Rütteln am Eisentor; es bewegt sich keinen Milimeter, und sogar die Türfalle ist abmontiert. — Langsam beginne ich, meine Planung zu hinterfragen. Auf den Web-Sites refuges.info und pyrenees-refuges.com hiess es, die Hütte sei zugänglich. Die wenigen Berichte verteilen sich jedoch über mehrere Jahre, was Raum für Spekulation lässt. Mein Reserveplan sieht vor, zur nächsten Hütte ennet des Kamms weiterzugehen. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit und des ungemütlichen Wetters ist das jedoch eine sehr unattraktive Alternative.

Trotz intensiver Suche zeigt sich weder eine Spur eines versteckten Schlüssels noch eine andere Möglichkeit, in die Hütte einzudringen, ohne gleich das Fenster einzuschlagen. Auch erneutes Rütteln bringt nichts, ausser dass mein Blick dabei auf ein merkwürdiges schwarzes Kunststoffteil fällt, welches darunter im Gras liegt. Bei genauerer Inspektion erweist es sich als die abgebrochene Türfalle. Da hat wohl schon jemand anders vergeblich am Tor gerüttelt und dann seinen Frust abgelassen.

Oder könnte es auch genau andersherum sein? Nämlich, dass die Türe gar nicht eigentlich verschlossen, sondern nur zugezogen ist und sich mit der Türfalle öffnen liesse. Allein, die Türfalle ist schon arg vermurkst und bewirkt gar nichts. Mit zunehmender Kraft und Verzweiflung drücke ich das Teil gegen die Türe und versuche gleichzeitig, den Hebel zu drehen und die Türe aufzuziehen. Eigentlich kann das gar nicht funktionieren, aber manchmal höre ich das Schnappen des Verschlusses, auch wenn sich rein gar nichts bewegt. — Da! Im letzten Anlauf öffnet sich das Eisentor, und dahinter kommt eine Glastüre zum Vorschein, die sich ohne weiteres öffnen lässt. „Deu vos Guard“ steht daneben geschrieben, und manchmal glaube ich ein bisschen daran.

Auf zum nächsten Problem! Selbst mit sparsamster Einteilung sind meine Wasservorräte zu knapp, und auf dem morgigen Weiterweg sind auch keine sprudelnden Quellen zu erwarten. Also auf dem ursprünglich beabsichtigten Aufstiegsweg zum Bach hinuntersteigen, um Wasser zu schöpfen. Erfreulicherweise überquere ich schon bald ein Rinnsal, wo sich die Flaschen füllen lassen. — Nun auf zum Kochen und Feuern! Die Hütte ist genügend komfortabel eingerichtet, dass ich einen ebenso gemütlichen Abend wie die Nacht verbringe.


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