Volle Kraft voraus in den Oktober! Das Sonntagmorgenprogramm sieht den Klettersteig auf die Mala Mojstrovka vor, gefolgt von einer Trailrunde hinüber zum Travnik (1000Hm + 10km). Am Nachmittag dann voll Schub in die andere Richtung über den Razor zur Griva-Hütte (1500Hm + 12 km) und weiter zum Biwak IV (soweit die Planung).
Mojstrovka, Travnik
Das schöne Wetter hat viele Leute in die Berge gelockt, und der Parkplatz auf dem Vršič-Pass ist schon am frühen Morgen gut belegt. Schnellen Schrittes eile ich zum Vratca-Sattel hoch, doch auch dahinter kriechen überall bunte Farbtupfer durch die Landschaft. Heute wird es Geduld brauchen!
Bis zum Einstieg kann ich noch einige Plätze gutmachen in der Startliste, danach staut es jedoch ab und zu. Paare, Familien und eine geführte Gruppe geniessen miteinander den attraktiven Aufstieg. Freundlicherweise lassen sie mich alle passieren, und so erreiche ich nach 1.5 Std. den Gipfel. Der Steig ist mittelschwierig, im unteren Teil etwas mehr als im oberen. Die hervorragend Wegführung vermeidet Steinschlag weitestgehend. Das ist ein absolutes Muss bei den Menschenmassen, die in der Hochsaison zu erwarten sind.
Solche haben sich auch heute auf dem Gipfel eingefunden. Es kommt fast ein wenig Strandatmosphäre auf. Beeindruckend ist der Blick übers Tamar-Tal hinweg zu Jalovec und Mangart. Die Nordflanke der Mojstrovka/Travnik-Kette bricht über tausend Höhenmeter praktisch senkrecht ab. Die Wände ziehen Kletterer unwiderstehlich an, und es ist nicht verwunderlich, dass Peter Aschenbrenner schon 1934 eine äusserst anspruchsvolle Route durch die Nordwand beging — aber höchst bewundernswert.
Ich folge dem Gratverlauf in anregendem Auf und Ab bis hinüber zum Travnik. Eine der dazwischenliegenden Scharten ist etwas “räss”, insgesamt ist es jedoch eine sehr vergnügliche Runde. Hinter dem Gipfel des Travnik geht es hinunter zur Terrasse, welche die gesamte Südostflanke durchzieht. Auf der Karte ist dort ein offenbar gut belaufbarer Weg eingezeichnet. Zumindest scheinbar, denn vor Ort zeigt sich kein erkennbarer Weg sondern vielmehr eine Karstlandschaft mit tiefen Dolinen und scharfen Hügelchen. Das Fortkommen ist entsprechend langsam, und es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich den Grebenec-Grat erreiche, der vom Mojstrovka-Ostgipfel hinunterzieht. Vom Sattel auf 1941 zieht eine steile Rinne über schroffes Gelände in Richtung Vršič-Pass hinunter. Weiter unten wird das Gelände gutmütiger, und endlich geht es “flowig” hinunter zurück zu Bier und Gepäckdepot in der Unterkunft.
Razor
Nach einer hastig eingenommene Stärkung ist es schon nach 13 Uhr, als ich dem gestrigen Abstieg entlang hochjage, bis der Normalaufstieg zum Prisojnik abzweigt. Dort folge ich dem Wegweiser “2. OKNO” weiter durch den unteren Teil der Südflanke, bis er im hinteren Abschnitt zum kleinen Prisank hochzieht. Diese Route wird offensichtlich deutlich seltener begangen, und zu dieser Jahres- und Tageszeit erwartet mich dort Ruhe und Einsamkeit. Der Aufstieg wird zunehmend felsig und ist stellenweise recht ausgesetzt. Nebelfetzen spielen mit dem warmen Sonnenlicht, und spätestens auf der Gipfelschulter habe ich den sonntäglichen Trubel am Vršič-Pass definitiv hinter mir gelassen.
Der Weiterweg ist mir nun nicht mehr klar. Hinab tauche ich in die schattige Welt der Nordflanke, und taste mich auf unbekanntem Weg voran. Und der ist durchaus anregend abenteuerlich. Stellenweise mit Ketten oder Kabeln versichert, windet sich der sog. Jubiläumsweg rund 150 Hm hinab, bevor er auf einem Band in der Nordostflanke traversiert. Am Ende führt es in einen kleinen Trichter, dessen unterer Ausgang einen furchteinflössenden Eindruck macht. Hinab und wieder zurück taste ich mich, bevor ich mich entschliesse, eher umzukehren, als hier Kopf und Kragen aufs Spiel zu setzen.
OK, das war es also mit dem grossen Plan für diesen Sonntag? Aber was soll der Scherz mit diesem OKNO-Jubiläumssteig? Eine Zeitlang hadere ich mit der Situation, will mich doch gar nicht auf den Rückweg machen. Welche Alternative kann es sonst noch geben, mitten in dieser gewaltigen Nordostflanke? Meine OSM-Karte ist etwas unklar. Neben dem Weg hinab zeigt sie einen anderen über die Gratkante hoch auf die Sonnenseite, was mich jedoch eher ans Jenseits erinnert, denn über mir ist reines Klettergelände, kompakt, steil und felsig. Wie soll das gehen?
Zögerlich taste ich mich durch den Trichter nach oben, um einen näheren Augenschein zu nehmen. Über steiles Geröll, gesäumt von glattem Gemäuer stapfe ich empor — und entdecke mit Staunen, wie sich vor mir eine Höhle im Berg öffnet. Als ob ich “Sesam öffne dich!” und “Simsalabim!” gleichzeitig ausgesprochen hätte, weitet sich ein Schlitz zu einem mittleren Kirchenschiff. Ich trete über die Schwelle und erforsche staunend die dunkle Weite. Welche eine Entdeckung! Am Boden liegen mächtige Felsbrocken, und ich möchte mir gar nicht genauer vorstellen, dass Nachschub an der Decke hängt.
Richtig Klick macht es mir erst, als ich auf der gegenüberliegenden Seite Licht wahrnehme, das durch eine Rosette einfällt. Könnte es sein, dass … — Tatsächlich! Oben zeigt sich ein Ausgang, zu dem ich eilends emporsteige. Durch einen schmalen Schlitz steige ich aus dem Fels auf einen Absatz zwischen überhängenden Wänden.
Unter mir bricht die Wandflucht jäh ab und führt über ein Risssystem hinunter. Auf der Seite ist ein solides Kabel befestigt, und offensichtlich führt hier ein Klettersteig hinunter. Und was für einer! Über die glatten Wände folgt man Rissspuren und ist froh über die zahlreichen künstlichen Tritte und Griffe. Bei dieser Passage handelt es sich gewiss um die anspruchsvollste weit und breit. Nach einer Schleife nach links hinüber erreiche ich die Rinne direkt unter der Kathedralenrosette und frage mich, was ich gerade eben erlebt habe.
Und wo es weiter lang geht. Durch nicht triviales Gelände folge ich den Markierungen, die zur Lücke östlich des Prisankmassivs führen. Zum Schluss geht es nochmals recht anspruchsvoll hinunter, und ich blicke sorgenvoll auf die Uhr. Nun denn, der Weiterweg wird bestimmt flüssiger verlaufen als diese Kraxelkriecherei! Auf der Karte sieht der Übergang zum Razor recht geradlinig aus, und wenn ich etwas Schub gebe, sollte der Übergang zum Griva-Kessel auch schnell erledigt sein.
Tatsächlich schraube ich mich zügig zum Fuss der Nordwestflanke hoch und über eine breite Rampe steil in Richtung des Planja-Sattels. Dort wendet sich der Pfad jedoch abrupt nach links und führt im Zickzack über die Balkone einer spektakulären Felsarena rund 250 Hm empor. Das späte Tageslicht taucht die Szenerie in goldene Farbe, und so macht es mir zunehmend weniger aus, mich mit dem Gedanken abzufinden, dass ich auch der heutige Tag erst nach Sonnenuntergang zuende sein wird. Mit diesem Aufstieg wähne ich die technischen Schwierigkeiten überwunden, und so finde ich Zeit und Musse, um den prächtigen Sonnenuntergang ebenso wie das erste Abendlicht einzufangen.
Meine Augen gewöhnen sich langsam an die abnehmende Helligkeit, und für später habe ich natürlich eine Stirnlampe mit dabei. Das goldene Herbstwetter ist nichts als stabil schön, sodass alles kein Problem ist. Und den Abstieg über die Geröllhalden, bringe ich dann auch in der Dunkelheit hinter mich, denke ich. Also den Rucksack deponieren und hoch zum Gipfel, sind ja bloss 250 Hm! Der Aufstieg ist abwechslungsreich und wird zuoberst noch herausfordernd. Eine sehr steile Leiter und noch etwas Kraxelei führen auf den Gipfel hoch. Dort ist dann definitiv Ende Feuer mit Tageslicht, und so kehre ich im Schein der Stirnlampe zum Sattel zurück.
Jetzt also noch die Geröllhalden hinter mich bringen, bevor es Znacht gibt. — Kann ich wissen, dass ein Weg auf der Landkarte derart einfach aussehen kann, wenn er über derart kompliziertes Terrain führt? Wenn ich mich richtig erinnere, führt der Weg vom Sattel rechtshaltend einem zunehmend steiler werdenden Felsband entlang hinunter. Danach kurvt man durch grobblockiges Geröll, und ich bin dankbar über die ausgezeichnete Markierung. Scheinbar läuft alles wunderbar einfach, und schon bald werde ich auf der Hütte sein — denke ich. Der Weg zieht konsequent links hinüber und zielt auf eine steile Felsflanke zu. Das einfache Terrain steilt nun ebenfalls zunehmend auf, und so stägere ich bald über eine steile Plattenflucht am Fuss einer Felswand. Das ist nun überhaupt nicht mehr einfach belaufbares Gelände. Im Gegenteil, es wird zunehmend exponierter. Der Schein meiner Pfunzel bringt auch nicht die grosse Erleuchtung, aber mittlerweile hat es mir gedämmert, dass die Platten unter mir senkrecht abbrechen. Kurz mal zur Hütte runterdüsen hatte ich mir anders vorgestellt.
Ich taste mich von einer Markierung zur nächsten. Nur ja keine einzige verpassen! Das Steinbockgelände erstreckt sich über eine gefühlte Endlosigkeit, sicher mehrere hundert Meter. Und plötzlich sind keine Markierungen mehr da. Vorwärts, rückwärts, runter und wieder hoch such ich — einfach nichts. Wie geht das mit dem bisherigen Charakter des Wegs zusammen, wo immer wieder eine Markierung war, wo nötig. Weshalb hier nicht? Habe ich mich weitläufig verstiegen? Zurück zur letzten und die Spuren überprüft. Unnötig zu sagen, dass es sich nicht um Trampelpfade handelt, sonder um eine alpine Fussspur im Absturzgelände. Vielleicht mehr absteigen? Was aber, wenn das Gelände unvermittelt abbricht? Was ich runtersteigen kann, kann ich auch wieder hochklettern. Also vorsichtig hinab! Und vielleicht etwas mehr links um die Kante herum? Bin ich noch im guten Gelände unterwegs? Wie sieht es weiter aus?
Diese Intensität im Denken und Entscheiden macht mir den Alpinismus aus. Es klingt vielleicht nach purem Stress, fühlt sich jedoch mehr als angespannte Konzentration an. Mein geistiger Fokus ist voll und ganz auf das Hier und Jetzt ausgerichtet. Keine Nebensächlichkeit darf meine Wahrnehmung trüben, keine Regung meine Konzentration stören. Und gleichzeitig muss ich auch Nebensächlichkeiten genauso wahrnehmen wie Gefühlsregungen, muss auf sie eingehen und sie einordnen.
Irgendwann stosse ich wieder auf eine Markierung, die andeutet, dass hier tatsächlich ein Abstieg über den fast senkrechten Fuss der Plattenflucht möglich ist. Vorsichtig kraxle ich hinunter und versuche mich weiterhin zu orientieren. Wie noch selten freue ich mich über den Ausgang aus dieser Felswand. Es ist nach 21 Uhr, als ich endlich auf einem guten Weg zur Hütte trotte. Eigentlich hatte ich heute noch zum Biwak IV hinüber gewollt, aber das wird nichts mehr. Vor der Hütte sitzt zu meinem Erstaunen ein slowakisches Pärchen und leistet mir Gesellschaft beim Znacht. Von ihnen erfahre ich, dass es im Gebäude der Seilbahnstation einen Winterraum mit zehn Schlafplätzen gebe. Und es ist sogar noch einer für mich frei. Welche ein Geschenk! Ich schlafe zwar nicht gut, dafür aber sehr warm.
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