Abenteuer lassen sich schlecht planen, und man soll auch dem Zufall eine Chance geben. Die Überschreitung des Gross Düssi hatte ich schon länger im Auge, und als die Sommerhitze einfuhr, zog oder drückte es uns in die Höhe.
Logistisch ist die Runde am einfachsten mit einem Velo anzugehen. Denn das Maderanertal ist nicht nur wunderschön, sondern auch lang. Das Unternehmen Gross Düss usw. beginnt mit einer anstrengenden Velofahrt auf der Südseite des Tals. Sicher ist es weniger heiss als auf der Sonnenseite, dennoch läuft der Schweiss in Strömen. Die neue Strasse steigt unerbittlich gleichmässig über 400 Hm hinauf, und mit Bergschuhen und schwerem Gepäck überlegt man sich bald einmal, ob man nicht besser im Talgrund dem Bach entlang gefahren wäre. Dort ist der Weg jedoch deutlich schmaler und schlechter zu befahren als die breite Teerstrasse, allerdings kommen hier satte 100 Hm mehr zusammen. Und wenn man endlich die Alp Guferen erreicht hat, warten nochmals 1100 Hm Fussaufstieg bis zur Hütte. Beileibe kein leichter Start ins Abenteuer!
Auf der Nordseite folgt man dem Chärstelenbach bis zur Siruptankstelle bei Riedbödmer, wo man den stiebenden Bach überquert. Der Wechsel von Tief- zu Hochdruckwetter bringt zwar Unmengen von wild rauschendem und gurgelndem Schmelzwasser mit sich, trotzdem liegt in höheren Lagen noch beträchtlich viel Schnee. Von dort sind es immer noch 900 Hm bis zur Hütte, jedoch beleuchtet die Abendsonne “dank” späten Starts (mit schönen Grüssen von der Spontanität und der Sommerhitze) unseren Aufstieg. Bei der Ankunft auf der Hütte leuchtet nur noch das Stubenlicht aus dem Fenster. Der Empfang ist sehr freundlich, und wir kommen in den Genuss eines “candle light dinner”.
Die Nacht ist kurz, und wir machen uns im ersten Tageslicht auf den Weg. Anfänglich folgt man dem Weg Richtung Hüfifirn, bevor man steil gegen den Gross Düssi hoch steigt. Mit dem Sonnenaufgang erreichen wir die Anhöhe auf rund 2500m. Von dort überblickt man den ganzen Aufstieg. Allerdings präsentiert sich dieser überhaupt nicht übersichtlich. Ungefähr horizontal führt ein Band unter einer Felsfluh entlang. Weit rechts aussen zeigt sich eine Möglichkeit, über eine Rippe P. 2534 zu erreichen. Die Traverse ist geröllig und der Aufstieg grasig, im ganzen jedoch gutmütig. Gleich zu Anfang ist eine Seillänge mit Bohrhaken gut abgesichert. Weiter folgt man der Kante in alpinem Gelände zu P. 2820, wo der alte Routenverlauf über den Gletscher kommend einzweigt.
Bei einem zweiten Zmorge inspiziere ich den weiteren Verlauf durch die Flanke. Denn wenn man auch vom Nordwestgrat spricht, steht man vor einer breiten Flanke ohne klar vorgegebene Linie. Erst weit darüber lässt sich der Gratverlauf deutlich ausmachen. Nach dem Sattel überwindet man linkshaltend eine firnbedeckte Geröllterrasse, um festen Fels zu erreichen. Wieder rechtshaltend zielt man auf eine schwach ausgeprägte Verschneidung, in welcher sich einige Bohrhaken finden. Weiter oben folgt erneut eine mit Bohrhaken bestückte, jedoch markantere Verschneidung. Danach hat man die klettertechnischen Schwierigkeiten gemeistert, und der weitere Aufstieg verläuft in vergnüglich alpinem Gelände. Oben macht man einen Schwenker links hinaus, um einen etwas steileren Aufschwung zu umgehen. Danach erreicht man auf logischem Weg das Gipfelkreuz, wo wir uns nach fast sechs Stunden Aufstieg gerne für eine Rast niederlassen.
Der Abstieg verläuft zunächst im Geröll und wird erst gegen den Chli Düssi hin etwas kraxelig. Von dort weg wird die Routenfindung zunehmend anspruchsvoller. In der zunehmend steiler werdenden Südflanke ist Spürsinn gefragt. Man hält sich links hinunter, und wo man die Option “Sprung in die Tiefe” erwägt, sollte einem ein kurzes Fixseil die Entscheidung abnehmen. Sobald man das Firnfeld erreicht hat, zielt man leicht abfallend links gegen den Hagstäcken hinüber. Jener sieht etwa so einladend aus, wie sein Name vermuten lässt. Allerdings lasse er sich relativ leicht ersteigen, was wir an dem Tag jedoch nicht weiter überprüfen wollen.
Die Altschneefelder sind schon recht stark aufgeweicht, und so tasten wir uns von einer Felsinsel zur nächsten voran, was deutlich mehr Zeit kostet als der Blick auf die Karte vermuten liess. Endlich steigen wir über das vorläufig letzte Firnfeld zur südlichen Hagstäckenlücke hinauf, wo wir uns wieder anseilen. Weiter geht es dem Grat entlang über die vielen Zacken der Straligen Stöckli. Die Kletterei ist nirgends schwierig, der Fels jedoch stark verweittert, sodass achtsames Steigen angesagt ist. Am x-ten Turm leiste ich mir einen Ausflug in den kompakten Fels der Nordostflanke. Einladend zieht ein grasiges Band schräg links hinauf, und darüber scheint ein Durchstieg zur darüberliegenden Verschneidung möglich. Auf die Westseite habe ich gar nicht geschaut, denn dort erhebt sich eine scharfe und steile Gratkante. Zunehmend anspruchsvoller klettere ich empor, und schliesslich bin ich einfach nur froh, dass sich meine Einschätzung der Schwierigkeiten bestätigt. Viel Reserve hatte ich definitiv nicht mehr, auch nicht im Bezug auf die Absicherung. Bei Inspektion von oben erweist es sich als empfehlenswert, hätte ich auf die Westseite gewechselt, wo sich die Schwierigkeiten wider Erwarten mässigen.
Ansonsten ist die Gratüberschreitung nicht besonders anspruchsvoll. Allerdings steht man besonders in der zweiten Hälfte immer mal wieder vor einer Boulderstelle. So etwa am Fuss des letzten oder vorletzten Turms beim Aufstieg aus der Lücke. Letzten Endes lassen sich jedoch diese Stellen alle überraschend einfach lösen, und vier Stunden nach dem Gross Düssi stehen wir auf dem allerletzten der Straligen Stöckli (P. 2906). Leider passt sich der Sonnenschein seit einer Weile nicht mehr dem Landschaftsnamen an. Zunehmend dichtere Wolken ziehen auf, und es sieht sogar nach Regen aus. Deshalb sehen wir von der Überschreitung zu den Tschingelstöcken ab, auch weil ich den Abstieg von dort nach Süden nur von einer Winterbegehung her kenne.
Andererseits weiss ich genau gar nichts über einen allfälligen Abstieg von der Tschingellücke nach Osten. Gewappnet mit der Überzeugung, dass was Lücke heisst auch als Übergang dienen kann, steigen wir hoffnungsfroh hinab. Hinüber trifft es eigentlich besser, denn der direkte Abstieg bricht in einer steilen Wand ab. Also schreiten wir mutig über die Geröllfelder auf der Suche nach einem Abstieg. Mit der Zeit wird daraus der Mut der Verzweiflung, denn der Abgrund gähnt immer etwa gleich unter uns, und voraus steuern wir auf eine Felswand zu. Manchmal wird forscher Mut belohnt. Die Naht von “unserer” Fluh und der Felswand erlaubt einen recht einfachen Abstieg, sodass wir wohlbehalten den Kessel südöstlich von P. 2906 erreichen. Von da wird es noch ein Katzensprung von rund fünf Stunden zur Cavardirashütte. Katzen mögen jedoch kein nasses Fell, und mir geht es im Regen ganz ähnlich. Glücklicherweise hat der Himmel gewartet, bis wir das vertikale Hindernis überwunden hatten!
In der Zwischenzeit aber hat sich die Wolkendecke geschlossen, und es sieht ungemütlich aus — gleich wie das Gelände um uns herum. Von P. 2457 führt eine Rinne direkt hinunter, was einen Umweg von fast 200Hm ersparen würde. Übertrieben steil sieht sie nicht aus. Ein Rinnsal fliesst in der Mitte, und der Einstieg verläuft durch festes Grasgelände in der linken Flanke. Darunter verengt sich der Trichter, und der Untergrund wird zunehmend schuttig. Zusammen mit dem Wasser ergibt das eine extrem rutschige Masse von Treibschutt. Ohne Halt bewegen wir uns mit der ganzen Schlammsicht hinunter. Nach der engsten Stelle retten wir uns ans rettende Ufer der rechten Flanke, welche jedoch wiederum betonhart ausgetrocknet ist. Es kommt so weit, dass ich mit dem Pickel Stufen in den Dreck hacke! Im Nachhinein betrachtet, handelt es sich um die unangenehmste Passage der gesamten Tour.
Mein Ziel ist, den Abstieg ins Val Cavrein zu vermeiden. Deshalb peile ich die Anhöhe von Muotta Cavrein an. Nördlich zieht eine Rinne hinauf, in welcher deutliche Wegspuren zu erkennen sind. Oben traversieren wir eine wunderbare Terrasse unterhalb der Tschingelstöck, bis uns deren Südostsporn hinunter zwingt. Möglichst die Höhe haltend, queren wir auf deutlichen Pfadspuren ins Val da Surplattas. Mein Plan war, auf der gegenüberliegenden Talseite möglichst ohne Höhenverlust entlang der Skitourenroute gegen die Hütte zu traversieren. Beim Anblick des Geländes lässt sich jedoch kaum erahnen, ob und wie sich die Steilstufe am Fuss der Flanke überwinden lässt. Ausserdem ist es schon spät geworden, und das Tageslicht nimmt langsam ab. Also doch ins Val Cavardiras absteigen! Das macht locker eine Stunde mehr Weg aus. immerhin können wir über den Buckel P. 2395 abkürzen und uns im letzten Licht des Tages über Schafpfade zum Hüttenweg hinabtasten.
Der letzte Aufstieg zur Carardirashütte erscheint unnötig vertrackt und lang, verglichen mit dem Zugang im Winter. Trotzdem bin ich froh um die dicht gesetzten Markierungen, welche im Slalom zur Hütte hoch führen. Dort werde wir trotz unserer monumentalen Verspätung auf Freundlichste empfangen und sogar noch mit einem warmen Abendessen verwöhnt. Herzlichen Dank, Manuela!
Am nächsten Tag ist ausschlafen angesagt, bevor wir gemütlich durchs lange Brunnital absteigen. Meine Überzeugung, dass man solche Strecken ausschliesslich im Winter mit Ski zurücklegen sollte, bekräftigt sich über mehrere Stunden hinweg. Mit leicht wehmütigem Blick schaue ich zum Fruttstock hoch und erinnere mich an die prächtigen Verhältnisse im Coronawinter 2020. Damals verpasste ich den eindrücklichen Anblick des Wasserfalls beim Bockis, dessen stiebende Gischt uns eine willkommene Erfrischung bietet. Die Affenhitze des Unterlands wollen wir uns noch eine Weile ersparen und verbringen eine zusätzliche Nacht auf der Hinterbalmhütte. Schliesslich war unser primäres Ziel gewesen, in kühle Höhen zu entfliehen. Am nächsten Morgen steigen wir in der Kühle des Morgens über den Bärenpfad zu unseren Velos ab und sausen dem Chärstelenbach entlang Richtung Bristen. Aufgezogene Bewölkung mit leichter Schauerneigung setzt dem Spuk der “canicule” ein Ende, und so können wir getrost den Heimweg antreten. Mission Hitzeflucht erfüllt!
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