Planen, packen, probieren — dieser Dreisatz hat sich doch noch immer bewährt. So auch auf der grossen Lücklitour von der Bannalp übers Rot Grätli, die Engelberger und die Schlossstocklücke mit Abstecher auf den Wyssigstock. Nächtigung in der hübschen Gitschenhörelihütte und morgendliche Besteigung des URS, gefolgt von der legendären Abfahrt ins Grosstal (Isental). Landschaftlich abwechslungsreiche Durchquerung der kanadischen Wildnis im Herzen der Zentralschweiz, die sich auch meteorologisch ebenso abwechslungsreich präsentierte. Deshalb bescherte sie uns Stille und Einsamkeit ebenso wie die Rückkehr von St. Jakob aus mit dem Postauto anstatt über den Brisen zurück ins Engelbergertal. Ein ausserordentlich erlebnisreiches Wochenende an der Grenze zwischen Frühling und Winter!
Zum Planen zuerst das Grundsätzliche: Die Wetterprognose klingt derart bescheiden, dass die Hüttenwartin anruft, ob wir denn nun wirklich hochgehen wollen. Die Schneedecke hat sich jedoch schon die ganze Woche über mit kalten Temperaturen und erstaunlich wenig Wind sehr zum guten entwickelt, und da die gesamte Tour nicht auf anspruchsvolle Gipfel ausgerichtet ist, sondern eher eine Traversierung darstellt, sind alle einverstanden das Abenteuer anzupacken.
Zum Packen: Welche Verhältnissen herrschen an der Schlossstocklücke, und was ist wohl an Material notwendig? Eigentlich sollte die Abfahrt von dort mit einem Geländerseil gut machbar sein, aber die aktuelle Schneearmut könnte einem dort einen Streich spielen. Der Pickel müsste aber doch genügen, um zum Schluss dort zu Fuss abzusteigen. Also auf zum Probieren!
Und dann zur Realität, die sich in Oberrickenbach als grüne Matten überdacht von dicken Wolken zeigt, aus welchen es leise tröpfelt. Das kann ja heiter werden — vermutlich aber nicht. Immerhin Niederschlag! Denn Nachschub in Sachen Schnee ist dringend erwünscht. Zur Trostlosigkeit des Augenblicks trägt die Tatsache bei, dass wir an der Talstation weit und breit die einzigen sind. Hat man schon einmal einen Samstag Mitte März erlebt, wo man auf die Bannalp hochgondelt, wie wenn es sich um ein verlassenes Tal hinter den sieben Bergen handelt, mehrere Tagesreisen weit entfernt vom nächsten bewohnten Ort? (Zeit- und Augenzeugen wollen sich bitte unten in den Kommentaren verewigen, danke!) Habe ich etwas verpasst? Wurde das Fliegerschiessen etwa von A(-x-) nach B(-annalp) verlegt?!
Regen in Schnee übergehend steht für eine sehr gute, da klebrige, Verbindung zur Altschneeschicht, sodass die Lawinengefahr keine Sprünge machen wird. Auch wir schleichen etwas zaghaft unter der Wolkendecke im Bannalper Kessel der Schonegg entgegen. Übermütig hatte ich im Postauto meinem Gefühl Ausdruck verliehen, dass wir vielleicht sogar die Sonne sehen könnten. Das Waten im Schneebrei unter der Nebelsuppe spricht jedoch eine ganz andere Sprache. Tatsächlich aber klart es zunehmend auf, und über dem Nebel zeigt sich blauer Himmel mit versprengten Wolkenfetzen. Höhenwind scheint kein Thema zu sein, und es keimt die Hoffnung, dass diese blaue Störung anhalten möge.
Die ganze Zeit über sind wir mutterseelenallein unterwegs, und auch der Blick zurück von der Bannalper Schonegg lässt keine Verfolger erkennen. Kann es wirklich sein, dass wir das ganze Gebiet für uns haben? Welch eine Herrlichkeit! Jede Geländekammer ist unberührt, und die Hänge zum Ruchstock hoch locken mit 25 cm Pulverschnee. Der Himmel bläut sich noch mehr auf, und bald wird es richtig heiss. Es drängen sich Nachträge zum 3P-Dreisatz auf: Erstens stimmt es wirklich, dass man niemals nirgends nicht ohne Sonnenhut auf Tour gehen sollte. Zweitens hat es sich tatsächlich noch genau gar nie ausbezahlt, beim Wasser zu sparen. Und drittens wäre es gescheiter gewesen, die Skis zu wachsen, als im Eishockey-Playoff beim Scheitern zuzuschauen.
Schritt für Schritt erschliessen wir uns das unberührte Reich, das vor uns liegt. Schon im Aufstieg zum Rot Grätli wähnt man sich in einer anderen Welt. Tief verschneit die langgestreckte Mulde vor uns ebenso wie die jähe Westflanke des Engelberger Rotstocks, und über dem Grat leuchtet der blaue Himmel. Keine Spur weit und breit, und ich ziehe unbeschwert eine Trasse ins Gelände. Das Idealziel, ohne Spitzkehren auszukommen, verfehle ich erst ganz am Schluss, um über den steilen Gratkamm zu gelangen. Darüber weitet sich der Blick über die Terrasse von Rugghubel und das dichte Nebelmeer, das hartnäckig knapp unterhalb der Hütte wogt.
Für einen kurzen Moment wird es windiger, und die hochliegenden Wolken verdichten sich. Hinter dem Titlis wölbt sich die Föhnwalze in die Höhe. Mit der Farbe des Himmels verändert sich auch die Ambiance, und langsam machen sich die Anstrengungen des Aufstiegs deutlich spürbar. Der Gipfel des Wissigstocks müsste zu Fuss erstiegen werden, weil unter der Schneeauflage Steine hervorschauen. Wir lassen es auf dem Wissigrat bei P. 2791 gut sein und traversieren zurück zur Engelberger Lücke. Mit der nun fahlen Beleuchtung macht der dahinterliegende Kessel einen abweisenden Eindruck. Zudem scheinen die Flanken unter dem Wissigstock steiler, als ich sie in Erinnerung hatte. Ob wohl die Ausaperung dafür verantwortlich ist oder einfach viel Triebschnee liegt? Möglicherweise beides. Deshalb fahren wir von der Lücke recht tief ab, bevor wir auf den Schlossfirn hinüber halten.
Die gegenüberliegende Schlossstocklücke sieht so aus, wie sich die Filmemacher von Cliffhanger wohl eine Lücke vorstellen. Steil ragt der scharfe Südgrat des Schlossstock über der winzigen Furke auf, und rechts zieht sich ein verschneiter Schneegrat hoch. Der Anstieg geht gut, auch wenn das Terrain recht steil wird. Zum Schluss gehen wir zu Fuss, weil die Skikanten auf dem harten Altschnee keinen Halt mehr finden. Die Lücke bietet kaum Platz für alle, und der Blick hinunter auf der anderen Seite zeigt extrem wenig Schnee im Steilhang. Das wird eine aufwändige Sache!
Meiner Berufung als Schwergewicht nachkommend, stelle ich mich als Anker hin und sichere alle einzeln hinunter. Als zusätzliche Schikane kommt nach und nach ein steinernes Hindernis, garniert mit einer Kette zum Vorschein, was offenbar einiges an Akrobatik verlangt, um mit Skis drüber hinab zu steigen. So berichten mir zumindest meine “Relaisstationen”, denn ich stehe ja auf der gegenüberliegenden Seite im Hang, jederzeit bereit, mich ins Zeug legen bzw. hängen. Ich hätte mir ja nie träumen lassen, dass ich einmal eine Karriere als “anchor man” finden würde. Vielleicht sollte ich mich beim Fernsehen bewerben.
Zeit genug um TV-Dokus zu schauen hätte ich ja, denn die Aktion dauert bei fünf Personen natürlich mehr als eine Stunde. Als es schliesslich an mir ist hinunter zu steigen, bin ich total richtig nicht aufgewärmt. Vorsichtig steige ich auf der harten Altschneedecke hinab, denn vom Neuschnee wurde der Hang radikal befreit. Immerhin haben sich Rillen gebildet, in welchen sich die Kanten platzieren lassen, und mit dem Pickel in der Hand stochere ich nach zusätzlichem Halt. Bei der Steinstufe angekommen, ist Kreativität gefordert. Von Schneeauflage keine Spur mehr, und die Kette darunter erinnert mich an die Gummischnur beim Hochsprung im Schulturnen. Einfach nicht aus Gummi, und anstatt dicker Schaumstoffmatte dahinter ein steiler Schneehang mit verborgenen Lawinenbollen. Ich hatte mir einen Steinbrocken vorgestellt, den man seitwärts übersteigen muss. Dass sich die Skispitzen schon darüber auf kleinen Vorsprüngen festhaken, und sich die Skienden hinten auf einem Schneerücken verkeilen, war so nicht Teil der Planung. Ich stehe viel zu hoch und damit auch zu weit weg vom eigentlichen Hindernis, um sachte abzusteigen. Also doch Hochsprung!
Von der Freeride World Tour und Konsorten habe ich noch nie längere Videos angeschaut, höchstens da und dort einmal kleine Ausschnitte gesehen. Ich finde es eine verrückte Idee, mit Skis über Felsen hinunter zu springen. Geblieben aber ist mir der Eindruck, dass sich das nur bei wirklich günstigen Schneeverhältnissen machen lässt. Die Experten mögen mich korrigieren, aber bei weniger als 25 cm fluffligem Powder kann ich mir nicht vorstellen, mich aus einer wackligen Position aus dem Gleichgewicht zu lehnen, mit den Beinen kräftig abzustossen, die Fersen anziehen, um die Skienden möglichst weit über die Oberfläche zu bringen und ins Leere zu springen. Die Skis sofort auf die andere Körperseite bringen, um bei der Landung scharf nach rechts zu ziehen, um nicht auf einen Eisbrocken aufzufahren und danach locker drei, vier Schwüngen im Pulverschnee ziehen. Kalt ist mir danach nicht mehr.
Ausgekühlt warten dafür die anderen unten im Hang. Mittlerweile ist es gut Nachmittag geworden, und wir freuen uns, bald das Zuhause für die Nacht zu erreichen. Es wäre also überhaupt nicht nötig gewesen, dass ich mich in der Abfahrt verspekuliere und direkt auf den steilen Einschnitt im Felsbuckel über dem Gletscherbecken zusteuere. Die knappen Schneeverhältnisse lassen die Direktabfahrt jedoch nicht zu, und so müssen wir nochmals die Felle aufziehen. Der Aufstieg dauert weniger lang als das Montieren der Felle, und trotzdem hätte man gerne darauf verzichtet. Glücklicherweise bleibt die Stimmung im grünen Bereich, und es mault auch niemand, als wir fünf Minunten später erneut anfellen für den Schlussaufstieg zur Gitschenhörelihütte. Wahrscheinlich sind alle auch einfach ein bisschen müde und vor allem glücklich, das Ziel bald erreicht zu haben.
Von Nordwesten her scheint die Sonne unter den Wolkendeckel, der sich über der Zentralschweiz geschlossen hat. In der Ferne sind höherliegende Wolkenfelder sichtbar, die nichts Gutes verheissen für das morgige Wetter. Wir rechnen mit der bekannten Wetterprognose und werden vermutlich direkt ins Tal abfahren und den URS sein lassen. Zuerst aber einfeuern, Wasser kochen, Schnee schmelzen, umziehen, Bettstatt einrichten usw. Die Hütte ist nur auf Voranmeldung zu benutzen, wobei man einen Code für die Schlüsselbox im WC-Häuschen erhält. Sie bietet komfortabel Platz für bis zu neun Leute und ist mit einem Getränkevorrat, zwei grossen Thermoskannen, Wolldecken und Armeeschlafsäcken ausgerüstet. Letztere sind gerade knapp nicht so alt wie ich selber und auch immer noch recht gut im Schuss für ihr Alter, aber sonst nicht für viel zu gebrauchen. Ich erinnere mich an kalte und — schlimmer noch — kalte und nasse Nächte im Militär, wenn die Untauglichkeit des Schlafsacks durch eine wasserdichte Hülle gleichzeitig kompensiert und durchs Kondenswasser wieder verstärkt wurde. In einer Hütte bei knapp über null Grad geht es gerade so; bei schmalem Temperaturwohlfühlbereich verbringt man jedoch keine wohlige Nacht.
Zu den Tabuthemen am Morgen danach in einer Hütte zählt die Frage, wie man geschlafen habe. Die Schilderungen gehen von Schnarchgedröhne über Erstickungsanfällen bis zum Frieren beim Toilettengang, und sowieso hat keiner ein Auge zugetan. Solche Nächte muss man mit ebenso viel Grossmut wie Demut erdulden. Ohropax helfen. Und die grosse Tasse Kaffee ist ein Ankerpunkt des lebenswerten Lebens. Danach die Hütte reinigen und alle siebenundzwanzig Sachen zusammensuchen, Schuhe anziehen, bevor es wieder weitergeht.
Das Wetter ist oben milchig und unten breiig grau. In der Nacht war der Himmel noch sternenklar gewesen, wie ich vom Fenster des WC-Häuschens aus eindeutig hatte feststellen können. Leichter Niederschlag kündigt an, dass sich das schlechte Wetter von Westen her breitmacht. Mit dem Plan, ins Tal abzufahren, steigen wir hinter der Hütte auf die Moräne hoch bis zum Wegweiser. In dieser kurzen Zeit schiebt sich eine trockenere Luftmasse von Süden her über die Kette von Brunni- und Blackenstock und drückt die Bewölkung etwas aus dem Kessel und weiter ins Tal hinunter. Sollte es tatsächlich nochmals sichtig werden?! Mit der Aussicht, dass es vielleicht möglich sein könnte, auf den URS zu steigen, krempeln wir den Plan kurzerhand um und steigen durch die langgezogene Mulde hinter der Moräne auf. Die Bewölkung spielt mit dem Licht und erzeugt eine fast unwirkliche Stimmung. Nach wie vor sind wir in vollständiger Einsamkeit unterwegs.
Bei der Kehre zum langgezogenen Grat hoch, hat sich das Wetter soweit gebessert, dass der Gipfelaufstieg fassbar wird. Weil recht knapp Schnee liegt, erreichen wir das Skidepot unter der Schulter vor P. 2826 in einem Steinfeldslalom. Ein letzter Schneehang bringt uns auf die Westseite der Felszähne, und von dort wandern wir im leicht verschneiten Geröll dem Gipfel zu. Wie üblich ist der Gipfelhang fast aper, und doch geht es sich dank des Bisschens an Schnee erstaunlich gut in Skischuhen. Und dann stehen wir tatsächlich bei guter Sicht und Windstille zuoberst. Auf der Nordseite verengt sich die Perspektive zwischen Nebel- und Wolkenmeer, sodass wir schnell wieder absteigen, bevor der Nebel wieder in den Kessel hochsteigt. Zudem warten zwei von der Gruppe unten auf dem Grat, wo man den Wind empfindlich spüren würde.
Zurück zu den Skis und mit Fellen über den Grat, zu Fuss übers Geröll zum Sattel 2695, von wo wir abfahren. Der Schnee ist schattseitig vielversprechend locker, sonnseitig hat sich jedoch durch die Wärme ein Deckel gebildet. Die Wahl der Abfahrtslinie wird in dem Masse sekundär, wie ich zunehmend nichts ausser Weiss vor mir sehe. Der Nebel wabert aus dem Tal über den steilen Rand des Kessels hoch und ab der Einfahrt in die steilen Hänge von Firnbäch befinden wir uns mitten in der Watte. Das ist extrem bedauerlich, denn der Schnee ist dort seidenfein zu fahren. Ein Viertelmeter Schnee ohne Windeinfluss und die perfekt Steilheit, nur leider muss man sich nach Gefühl orientieren, denn das Auge findet fast keine Anhaltspunkte. Zweimal rumple ich über Steine oder überschneite Lawinenbollen, was meine Einschätzung der Mächtigkeit der Neuschneeschicht bestätigt. In der Planung war meine grösste Sorge gewesen, dass der Wind Triebschnee hinunter wehen könnte, aber die Windgeschwindigkeiten waren die ganze Woche über moderat geblieben. Beruhigt, dass keine lokalen Phänomene einen Strich durch die Rechnung machen, kann man unbeschwert über die prächtigen Hänge hinab schwingen.
Auch die weitere Abfahrt bleibt spektakulär. An der Nebelgrenze vom Vortag traktoren wir im Pflug durch eine lästige Kruste, während ich versuche, mich an den imposanten Felswänden zu orientieren, die sich aus dem Nichts vor uns aufbäumen. Dann heisst es, nicht zu früh in die steile Flanke hinabzustechen. Weil überall Weiss herrscht, werfe ich ab und zu Schneemocken in den Hang unter mir, um die Steilheit wenigstens ein bisschen einzuschätzen. Sie erweist sich jeweils als deutlich weniger dramatisch, als das Gefühl weismachen will. In solchen Momenten widme ich allen Kartographen seit Ptolemäus einen tiefen Dank und zahle etwas lieber Steuern, um SwissTopo zu finanzieren. Seit man die Geländesteilheit nicht mehr manuell zwischen den Höhenlinien errechnen muss, sondern sie farblich hervorgehoben direkt auf der Karte darstellen kann, hat sich das Navigieren im steilen Gelände erheblich vereinfacht.
Es bleibt noch genügend anspruchsvoll, durch die real existierenden Schneehänge hinunter zu turnen, denn der Schnee wird zunehmend schwerer. Die letzten paar hundert Höhenmeter vernichten wir mit laaangen Schrägfahrten und weeiiten Stemmschwüngen. Für Stilpuristen bietet das sicher keinen schönen Anblick, aber die können uns zum Glück gar nicht sehen. Zwar stehen wir nun unter der Nebeldecke, dafür schneit es zunehmend intensiver. Je weiter wir hinunter kommen, desto feuchter wird der Schneefall, und gegen unten kommt man nicht umhin, an Regen zu denken. Es ist klar, dass wir nicht mehr Richtung Bristen hochsteigen, sondern mit dem Postauto ins Tal hinunter gondeln und mit dem Zug heimfahren. Erlebt haben wir wahrlich genug für ein ausgefülltes Wochenende!
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