2022-04-30 SBlu-1

Lektion 1 am Tag 1: Der Selvaggio Blu ist kein Trail. Ernsthaft, der Selvaggio Blu ist wirklich ganz und gar kein Trail. Man prügle sich entsprechende falsche Vorstellungen vorgängig aus dem Kopf, und man verwende nie wieder den Begriff Trail im Zusammenhang mit dem Selvaggio Blu! Denn er ist einfach überhaupt kein Trail. Er lässt sich fast nicht beschleunigt begehen (von übermenschlichen Einzelleistungen unter optimalsten Bedingungen einmal abgesehen). Es liegt nicht an den Höhenmetern oder Distanzkilometern, auch nicht wirklich am Gepäck oder an den technischen Anforderungen; in der Tat sind jene kurz und nicht besonders anspruchsvoll.

Zwei Probleme stehen einem schnellen Vorankommen entgegen. Das kleinere davon, nämlich die Orientierung, ist für sich allein schon ein recht grosses. Der Weg ist sehr spärlich markiert, was offenbar in einer sardischen Bergethik begründet liegt. Selten einmal erspäht man einen mehr oder weniger verblassten blauen Punkt, manchmal ein sardisches Wegzeichen. Jene bestehen aus fast jeder erdenklichen Verwendung von Stein und Baum. Neben Steinmännchen oder -haufen auch Steine auf oder am Fuss von Bäumen oder Stecken oder auch einfach Holzstecken in Steinfeldern. Stecken auf Bäumen können auch zu den Wegzeichen zählen, aber nicht immer. Alles klar? Man lernt schnell, jedoch langsamer als einem lieb sein kann.

Die blauen Punkte haben sich mittlerweile selber überflüssig gemacht, weil dort alle Wegspuren zusammenlaufen. Man spürt förmlich das Aufatmen der Suchenden angesichts eines eindeutigen Wegzeichens, und der Pfad ist deshalb an diesen Stellen gut ausgetreten. Das bedeutet jedoch nicht, dass er es auch über längere Strecken bleiben würde, denn sonst wäre die Sache viel zu einfach. Pfadspuren können logischerweise nur dann zusammenlaufen, wenn sie sich vorher aufgefächert haben, und das geschieht schon in unglaublich kurzer Distanz zu den Wegzeichen. Man macht sich keine Vorstellung, wie einfach man in diesem Gelände falsch gehen kann! Das einzige (!) verlässliches Wegzeichen unterwegs sind Begehungsspuren, und die sind auf felsigem Grund selten in Form eines ausgetretenen Pfades, sondern eher an abgetretenem oder leicht schmutzigem Fels zu erkennen.

Das Terrain scheint auf den ersten Blick nicht besonders schwierig zu lesen, und darin liegt das Übel begründet. Weil der Felsuntergrund recht wenig verfaltet und grösstenteils horizontal geschichtet ist, sieht man überall geröllbedeckte Terrässchen oder Absätzlein, die eine Pfadspur vortäuschen. Da Pflanzen dort in der Regel auch keinen Humus vorfinden, bestärkt dies den Eindruck einer logischen Wegführung zu folgen. Irgendwann findet man sich jedoch vor einem Gebüsch und fragt sich, wo, wie und ob es denn weitergehe. Intuition und Vorstellungskraft, gepaart mit Beharrlichkeit, erweisen sich in solchen Situation als unglaublich mächtige Werkzeuge der Selbstüberlistung. Denn wenn man überzeugt ist, auf dem richtigen Weg zu sein, wird man solange einen finden, bis man sich im dichtesten Gestrüpp verheddert hat und endgültig zur Einsicht gezwungen wird, dass es tatsächlich nicht weitergeht, und dass der Weg wirklich nicht links oder rechts weiterführt. Obwohl, war da nicht eben eine Abzweigung, und zeigt sich dort nicht eine Pfadspur hinter dem Gebüsch?

NEIN! Zum wiederholten Mal das GPS zücken und verwundert feststellen, dass man 20 Meter neben dem Track steht. Nur so wenig?! Kurz rüberqueren? NEIN! In solchen Fällen gibt es nur den mutig angetretenen Rückzug zum letzten gewissen Punkt, übrigens je früher desto besser. Aus einer neuen Perspektive betrachtet, erscheinen die Spuren plötzlich deutlicher und schon geht es weiter. — Bis zu nächsten Sackgasse, denn jene kommt unweigerlich. Es ist zum verzweifeln! Anfänglich trägt man es mit Fassung, irgendwann verliert man sie jedoch und ärgert sich nur noch. Dafür ist mehr als genug Zeit, denn diese misst sich in Tagen oder zumindest halben. Schliesslich entwickelt man eine demütige Haltung und spürt, dass einen der Selvaggio Blu eine weitere Lektion erteilt hat. (Nicht die letzte übrigens!)

Die Erkenntnis bewirkt erstens, dass man über kurz oder lang das Tempo drosselt. Mit vollem Karacho ins Offside zu rennen macht auf Dauer wirklich keinen Spass. Zweitens hat man die Wahl, entweder permanent dem GPS-Track auf dem Bildschirm zu folgen, oder die Augen ständig auf den Boden gehaftet zu haben, um selbst geringste Zeichen menschlicher Präsenz zu erkennen. In beiden Fällen ist das Landschaftserlebnis stark eingeschränkt. Zwar ergeben sich in der Summe zahlreiche atemberaubend schöne Ausblicke und tiefe Eindrücke, man soll jedoch nicht erwarten, stets im Breitbildkinoformat unterwegs zu sein. Vielmehr verläuft der Weg oftmals in mehr oder weniger dicht bewaldetem Gebiet, und die dominierenden Farben sind mehr Holzbraun und Blättergrün als das vielgerühmte Blau. Als Bahntrasse wäre der Selvaggio Blu die alte Gotthardstrecke, nämlich mit vielen spektakulären Stellen, immer wieder neuen Landschaften aus wechselnder Perspektive und dazwischen auch immer wieder ein nächster, langer Tunnel, welcher die Aussicht versperrt.

Man hüte sich auch davor, dass Gelände zu interpretieren und irgendeine logische Linie zu erkennen meinen. Abgesehen von den wenigen ausgebauten Maultierpfaden gibt es fast nichts, das einen Verlauf vorgeben würde. Der Selvaggio Blu übernimmt das Grundprinzip des sardischen Verkehrsnetzes: Eine Strasse besteht aus einer Aneinanderreihung von Kurven. Und jene werden bevorzugt um jeden einzelnen Baum gelegt. Der Weg ist dort, wo Mario Verin und Pepino Cicalò mit ihrem GPS durchgegangen sind, und tatsächlich ist dort so etwas wie ein Weg entstanden. Im Zeitalter der Sozialen Medien und der Hashtags fragte mich mich jedoch zuweilen, ob das ganze nicht einfach aus einem Hashtag entstanden ist, der sich verselbständigte. Auch um solche Gedanken tiefgehend zu erörtern bleibt ausreichend Zeit.

Über weite Strecken verkommt das Voranschreiten zu einem Orientierungslauf mit unklaren Posten. Entweder trifft man auf deutliche Wegzeichen, oder dann überprüft man zum ungezählten Mal die GPS-Position. Der Angewöhnungsprozess, welcher geistig eher ein Abnützungskampf ist, beginnt übrigens erst nach dem ersten Aufstieg, wo man den Sattel der Punta Giradili anpeilt. Bis dorthin ist der Weg breit ausgetreten und gut belaufbar. Das gilt übrigens ganz allgemein für steile Anstiege, und so freut man sich mit der Zeit, wenn es endlich wieder einmal anständig rauf geht und man zünftig zulaufen kann. Keine Regel ohne Ausnahme, so auch hier! Wo der Weg über nackten Fels aufsteigt, sucht man doch wieder zwischen den verstreuten Bäumen und Sträuchern nach Wegzeichen.

Überhaupt verhält es sich mit nacktem Fels auf Sardinien sehr eigentümlich. Sieht man plattigen Fels voraus, so verbanne man schleunigst alle Vorstellungen von zügigem Vorankommen aus dem Kopf! Denn das junge Kalkgestein, welches den Supramonte ausmacht, ist von Wasser förmlich zerfressen und bildet unglaubliche Karrenfelder, wörtlich übersetzt “campi carreggiati” oder auch “campi solcati”. Hat man sich beim Klettern schon an wunderbar strukturiertem Fels erfreut, hilft einem diese Erinnerung möglicherweise über die üblen Erfahrungen mit der Belaufbarkeit derartigen Terrains hinweg. Nadelkissen gleich liegen Labyrinthe von scharfkantigen Rillen, Schlitzen und Löchern vor einem. Was andernorts den untersten Saum einer Felsküste am Meer ausmacht, erstreckt sich hier über viele ermüdende Kilometer Wegstrecke. Fehltritt verboten! Man will sich gar nicht vorstellen, was das scharfkantige Gestein mit Haut und Fleisch anstellen würde. Abgesehen davon drücken die Felsnadeln spürbar in die Fusssohlen, und das Zusatzgewicht am Rücken verstärkt diesen Effekt deutlich. Wer es nicht selber erlebt hat, hat keine Idee davon, wie zermürbend langsam und mühselig das Vorankommen sein kann!

Ausnahmslos jeder einzelne aller tiefergehenden Bericht über den Selvaggio Blu spricht von diesen Lochkarrenfeldern, und ich kann leider nicht widersprechen. Leider muss ich auch konstatieren, dass ich derartigen Passagen einfach keinen Glauben geschenkt hatte. Allzu oft werden Nichtigkeiten zu tiefgreifenden Erlebnissen aufgeblasen. Ich Nachhinein ärgere ich mich darüber, diese Information nicht korrekt eingeordnet zu haben. Es sei deshalb in aller Deutlichkeit gesagt: Das Terrain auf dem Selvaggio Blu ist über weite Strecken sehr mühselig zu belaufen, und man kann kaum vernünftig Tempo machen, wie man sich das vielleicht gewohnt sein mag. Nochmals: Der Selvaggio Blu ist kein Trail!

Was ist er dann? Ein sehr anspruchsvoll zu begehender Mehrtagestrek mit sehr hohen Anforderungen an Orientierungsfähigkeit, der über richtig übelzeitiges Terrain führt. Nie mehr werde ich den Selvaggio Blu als Trail bezeichnen!

Erster Tag bis zum Ovile Fenos Trainos

Der erste Teil geht, wie gesagt, im Hui, ab dort ist es eine Zeitlang Pfui, bis man seine erste Lektion gelernt hat. Über weite Strecken macht man Baumslalom.

  • Den ersten gröberen Verhauer hatte ich schon bei GPS-1d.
  • Der Abstieg zum Aussichtspunkt unten bei Sisiera (GPS-1n) lohnt sich m.E. nicht besonders.
  • Absolut spektakulär ist jedoch die Durchquerung der Schlucht des Bacu Tenadili (GPS-1o-q). Der Abstieg auf einer gewagten Baumstammkonstruktion fühlt sich mit 25 kg Zusatzgewicht auf dem Rücken nicht übertrieben stabil an. Verstärkt wird das Gefühl, wenn weit und breit keine Menschenseele ist, und die nachmittägliche Sonne lange Schatten in die Schlucht wirft. Die gegenüberliegende Talseite wird über sehr schönen Fels bezwungen und ist gut mit Fixseilen abgesichert. Für unsichere Kletterer wird man hier aber vielleicht mit eigenem Seil nachsichern müssen.
  • Die Durchquerung der Schlucht des Bacu Sonnuli (GPS-2c-f) hat es ebenfalls in sich! Der Weg traversiert steile Geröllhalden in der Flanke bis zuhinterst, von wo das Tal über einen kleinen Einschnitt verlassen wird.
  • Der Ovile Fenos Trainos wird als “uno dei più belli” bezeichnet. Das mag für das Ensemble gelten; der Hauptbau schien mir jedoch alles andere als einladend, um darin die Nacht zu verbringen. Da die Nacht mild und klar war, suchte ich ein schönes Plätzchen in der Nähe.

Hoi! Dein Interesse freut mich sehr, und ich würde mich ebenso sehr über einen kurzen Kommentar freuen. Ich investiere viel Zeit und Aufwand in diese Site und frage mich manchmal, ob die Inhalte überhaupt gelesen werden. Kommentare gebe ich manuell frei mit Angabe der Initialen (auf Wunsch auch anonym), und ich veröffentliche niemals Kontaktangaben. Diese ganze Site ist vollständig werbefrei, und es werden keinerlei Personendaten aufgezeichnet, die über das rein technisch Notwendige hinausgehen würde. — Danke fürs Vertrauen und viele schöne Touren! Stefan

2 Antworten zu „2022-04-30 SBlu-1“

  1. […] Nach etlichen unangenehmen Höhenmetern erreiche ich mitten im dichten Unterholz eine Art von Pfad. Lernfähig, wie ich bin, traue ich dem ersten Befund nicht ganz. Woher soll diese Spur denn […]

  2. […] Erste und wichtigste Erkenntnis: Der Selvaggio Blu ist kein Trail, sondern ein grosses — nein, ein riesiges — Abenteuer einer eigen Art. Diese sardische Spielart des Alpinismus setzt auf GPS-Tracks anstatt Markierungen im Gelände, nutzt traditionelle Hirten- und Köhlerpfade mit herkömmlichen Behelfsmitteln und verwendet viele einheimische Ortsbezeichnungen, die nur schwer oder gar nicht auf Kartenmaterial nachzuvollziehen sind. Vor dieser Art des Abenteuers habe ich grossen Respekt gewonnen, und ich erkenne nichts Vergleichbares bei uns in der Schweiz. Interessant, wie stark sich länderspezifische Haltungen bei ein und derselben Tätigkeit bemerkbar machen. Das erinnert mich an den Vergleich mit der österreichischen Art von Skitouren, wo mein Eindruck war, dass es sich dabei viel mehr um Skialpinismus handelt, wo das Bezwingen von technischen Schwierigkeiten höher gewichtet wird. Der strikte Verzicht auf künstliche Wegmarkierungen lässt mir […]

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