Was bleibt? Was macht der Selvaggio Blu mit einem? Und zu welchen tiefen Einsichten gelangt man in der sardischen Wildnis? — Grosse Fragen, kurze Antworten! Erste und wichtigste Erkenntnis: Der Selvaggio Blu ist kein Trail, sondern ein grosses — nein, ein riesiges — Abenteuer einer eigen Art. Sonst noch?
Sardischer Alpinismus
Anstatt Markierungen im Gelände werden GPS-Tracks eingesetzt, es werden traditionelle Hirten- und Köhlerpfade mit herkömmlichen Behelfsmitteln genutzt und viele einheimische Ortsbezeichnungen verwendet, die nur schwer oder gar nicht auf Kartenmaterial nachzuvollziehen sind. Erstmals habe ich die Spielart “scrambling and abseiling” des Alpinismus wahrgenommen, die sich in den sardischen Bergen aufdrängt und recht populär scheint. Vor dieser Art des Abenteuers habe ich grossen Respekt gewonnen, und ich erkenne nichts Vergleichbares bei uns in der Schweiz. Interessant zu sehen, wie stark sich länderspezifische Haltungen bei ein und derselben Tätigkeit bemerkbar machen. Der strikte Verzicht auf künstliche Wegmarkierungen im Abenteuergelände erinnert mich an die Bohrhakendebatte aus den 90er-Jahren. Ähnlich der Vergleich mit der österreichischen Art von Skitouren, wo mein Eindruck war, dass es sich dabei viel mehr um Skialpinismus handelt, wo das Bezwingen von technischen Schwierigkeiten deutlich höher gewichtet wird.
Im Vergleich stechen beim GR-20 oder der Via Alta Verzasca vor allem die höhere Lage und damit das rauere Klima hervor, bedeutend einfacher zugängliche Informationen und zuverlässiges Kartenmaterial, eine logische Wegführung mit viel besserer Belaufbarkeit und feste Unterkünfte. Der Selvaggio Blu ist roher und damit auch abenteuerlicher. Allerdings wäre durchaus auch Informationsmaterial verfügbar, wie ich nachträglich in der ausgezeichnet sortierten Libreria Namaste in Cala Gonone herausfand. In den Büchern von Corrado Conca (und …) habe ich viele Inspirationen für weitere Abenteuer auf Sardinien gefunden.
Das sardische Baumdogma
Lektion 2: Jeder Baum hält immer. Diese fundamentale Wahrheit entzieht sich wie jeder andere Glaubensfrage der kritischen Diskussion, sie bestätigt sich jedoch immer wieder aufs Neue. Ist der Fels auf Sardinien schon eisenhart, wird er aufs Beste ergänzt durch die hölzernen Auswüchse von gleicher Güte. Das bedenke, wer sich zu einer beinahe schon metaphysischen Überquerung einer aus Baumstämmen zusammengefügten Konstruktion anschickt! Der Glaube ans Übersinnliche hilft weiter. — Derart tiefgründige Ideen lenken wunderbar von der Ernsthaftigkeit des Geländes ab, und im Verlauf der Zeit gelange ich zu nachhaltigen Erkenntnissen.
Exemplarisch zeigt das Beispiel den Unterschied zwischen Dogma und Axiom auf. Axiome finden sich insbesondere in der Mathematik als eigentliche Grundannahmen. Fälschlicherweise wird dies manchmal am Beispiel aufgezeigt, dass sich nicht beweisen lasse, dass eins plus eins gleich zwei ist; darin ist jedoch die Definition der Zwei verborgen. Die Voraussetzungen aber, dass sich jede Zahl um eins erhöhen lässt, und dass das Resultat nicht null ist, stellt eines der fünf Peano-Axiome (nach G. Peano, 1858-1932) dar, welche Grundannahmen über die natürlichen Zahlen formulieren. Gleich wie Dogmen handelt es sich dabei um eigentliche Glaubenssätze; anders als jene sind sie jedoch nicht sakrosankt, sondern es können (und werden!) Alternativen untersucht (vgl. bspw. Restklassenringe, Ultrafinitismus usw. usf.). Sie geben Spielregeln in der Mathematik vor, sind jedoch nicht alternativlos, sondern es sind ganz einfach diverse Spiele möglich.
Ein Dogma hingegen ist eine metaphysische Wahrheit, deren Ablehnung mit ganz handfesten transzendenten Konsequenzen verknüpft ist; Widerspruch oder Zweifel muss zwangsläufig mindestens den Verlust des Seelenheils nach sich ziehen. Und das zeigt sich beim sardischen Baumdogma eben exemplarisch. Gläubige erleben Mal für Mal die Bestätigung dieser Wahrheit, wenn die Baumstammkonstruktion wider dem ersten Anschein beim Begehen nicht zusammengebricht, oder wenn — wie in meinem Fall — das dürre Stämmchen den Zug meines gesamten Gewichts aushält. Für Ungläubige hingegen gilt dies nicht; vielmehr zeigt sich ihr Abfall vom rechten Glauben in ganz und gar weltlichem Fallen.
Wie jedes rechte Dogma wird auch das sardische Baumdogma durch den dialektischen Materialismus in letzter Instanz vom Kopf auf die Füsse gestellt: Einerseits offenbart sich seine Gültigkeit den Gläubigen unmittelbar und wahrhaftig. Andererseits könnte man behaupten, dass es schon mehrfach widerlegt worden sei. Es ist jedoch erstens einmal in Frage zu stellen, ob dabei tatsächlich das Bäumige in seinem Dienst am Körperlichen versagt habe, oder nicht vielmehr das Körperliche dem Bäumigen zuvor schon übermässigen Schaden zugefügt habe, welcher zu dessen Entwurzelung geführt haben mag, sodass gar nicht mehr von einem Baum an sich die Rede sein kann. Es stellt sich die grundlegende Frage, wann ein Baum ein Baum im eigentlichen Sinn ist. Und wie bei jedem Versuch, metaphysische Begriffe und Kategorien mit der realen Welt zu verknüpfen, werden sich Heerscharen von berufenen Geistern finden, die derartige Fragen erörtern. In jedem derartigen Fall ist die Zuständigkeit des sardischen Baumdogmas grundsätzlich anzuzweifeln.
Zweitens — und das ist der wesentliche Aspekt — muss man davon ausgehen, dass sich eine derart tiefgreifende Wahrheit nur gläubigen Menschen zeigt, welche diesbezüglich in Achtsamkeit geschult sind. Solche zeigt sich in regelmässiger Versenkung in Tätigkeiten und Ritualen, welche durch die oben erwähnten Heerscharen erkannt und definiert werden. Ein scheinbares Versagen des Dogmas zeigt in keiner Weise seine Nichtigkeit, sondern beweist vielmehr seine absolute und universelle Gültigkeit. Denn nur einem Ungläubigen oder vom Glauben Abgefallenen ist ein solches Schicksal zugeteilt; alle Rechtgläubigen werden Mal für Mal vor der Verderbnis gerettet und erkennen darin die Bestätigung ihres Glaubens. Dogmen offenbaren ihre Heilwirkung grundsätzlich nur den Gläubigen; Ungläubigen hingegen zeigt sich ihre metaphysische Kraft in Form von Zerstörung und Vernichtung. Damit beweist sich ein Dogma mit der Zeit von selber und führt dadurch zum Heil.
Italianitá
Wie gesagt, habe ich viele neue Ideen und freue mich schon auf die nächste Nacht in einem der geheimnisvollen Ovili. Gespannt bin ich immer auf die fremde Kultur, und staune jedes Mal von neuem, wie Italien funktioniert. Die Bewilligung für das Begehen des Selvaggio Blu wird offenbar durchaus kontrolliert, wie ich vernommen habe. Der typische Konflikt zwischen lokalen und fremden Tourismusanbietern sowie Individualisten zeigt sich hier exemplarisch auf. Und wie auf jeder Reise mit dem öffentlichen Verkehrsmitteln fragt man sich ab und zu, weshalb nicht überall auf der Welt der schweizerische Organisationssinn herrschen könne. In Durgali bspw. weist einen die offizielle App der sardischen Verkehrsbetriebe an den zentralen Platz, wo auch tatsächlich eine Haltestelle ist. Nach einer Viertelstunde Verspätung frage ich in einem Laden nach und werde belehrt, dass der Bus schon lange nicht mehr hier durch fahre, denn die Strasse sei viel zu eng; er fahre jetzt aussenrum. Zwei Stunden später fährt der nächste. Autostopp ist übrigens absolut hoffnungslos! Diejenigen mit guter Ausrede — à la “Ich fahre nur ans Ende des Dorfes” — machen das gestenreich klar; die anderen zeigen mit abweisender Nobilität, dass sie niemals einen Fremden über weitere Strecken mitnehmen würden.
Material
Sehr zufrieden war ich mit der Kombination von Seil Rap Line, Abseilverankerung Escaper, Klettergurt Loopo und Rucksack Prism. Ebenso haben sich meine Eigenentwicklungen beim Schlafsystem und beim Kochen vollauf bewährt. Nur dank dieser Leichtgewichtsmodelle war der Rucksack überhaupt noch tragbar. Abstriche hätte ich nur wenige machen können: Für die Kappe war es zu warm, auch auf der Fähre. Das Wetter war perfekt; nicht zu heiss, aber auch nie regnerisch. Brennstoff hatte ich zu viel dabei; allerdings hatte ich ursprünglich damit gerechnet, noch weitere Tage dranzuhängen. Unabdingbar bei dem Gewicht sind Stöcke, und das entsprechende Reparaturset hat sich auch ausbezahlt. Weniger glücklich war ich mit meiner Wahl der Schuhe; eine feste Sohle ist — im Nachhinein betrachtet — zwingend.
Schuhirrtum
Neben der bereits angesprochenen Fehlannahme, dass sich der Selvaggio Blu im Trailtempo laufen lasse, bin ich bei der Planung von weiteren falschen Vorstellungen ausgegangen, die ich erst im Nachhinein erkannt habe. Ganz wesentlich daneben griff ich bei der Schuhwahl. Ursprünglich wollte ich meine geliebten Bushido II nehmen, zweifelte dann jedoch an deren Tauglichkeit für die zu erwartenden Kletterstellen. Ausserdem sind sie alles andere als regenfest, und im Gestrüpp leiden sie schnell einmal.
Zufälligerweise hatte ich vor einiger Zeit einen Laufschuh von Millet erstanden — allerdings ohne mir im Klaren über deren Einsatzzweck zu sein. Aussergewöhnlich am Amuri Matryx ist auf den ersten Blick das kevlarverstärkte Gewebe. Dadurch wird der Schuh sehr widerstandsfähig im garstigen Gelände. Zudem ist er auch recht wasserfest. — Und das ist ein zweischneidiges Schwert! Einerseits überseht man auch Regenschauer mit (fast) trockenen Füssen, andererseits steht es um die Atmungsaktivität richtig schlecht. Schon nach zwei Tagen Fusssauna hatte ich Probleme wie sonst nie. Aufgrund der Erfahrung eignet sich dieser Schuh nicht für Unternehmungen bei warmen Temperaturen. Man muss den Entwicklern zugute halten, dass der dafür vermutlich auch gar nicht ausgelegt ist.
Stattdessen zeichnet er sich durch eine Sohle aus, die ausgezeichnet zum Klettern geeignet ist. Millet verwendet im Zehenbereich dieselbe Gummimischung wie bei Kletterfinken. Zusammen mit einer recht steifen Sohle — verglichen mit einem Trailschuh — wir das Rumkraxeln zum Vergnügen. Auch auf kiesigem Untergrund beissen die Kanten erfreulich aggressiv, was besonders auf meinen beiden Varianten am zweiten und dritten Tag beruhigend war.
Zusammenfassend möcht ich jedoch mit Nachdruck zu einem stabilen Schuh mit fester Sohle raten. Von Millet wäre das bspw. der Trident GTX, der mir auch zur Auswahl gestanden hätte, wenn ich die notwendige Information gehabt und auch ernst genommen hätte. — “Hätti, wette, Velochetti!” Rückblickend kann ich nur schon froh sein, nicht meinen regulären Trailschuh getragen zu haben. Ich bin überzeugt, dass ich nach zwei Tagen abgebrochen hätte.
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