Longer, Harder Brienzergrat! Die nördlich des Brienzersee gelegene Bergkette ist unter verschiedenen Namen bekannt: Hardergrat, Brienzergrat, Rothornkette. Deren Überschreitung gibt es in verschiedenen Varianten: Light zwischen Brienzerrothorn und Harderkulm mit Bähnchen an beiden Orten, Medium mit Verlängerung zum Brünig und dann noch die Variante Harder von Interlaken bis zum Brünig.
Total rund 40km mit 3’500 Höhenmetern hoch und 3’000 runter. Belaufbarkeit bis nach der Roteflue B2, dann bis vor dem Suggiture B1 und ab da duchgehend B2-B3. Anspruchsvoll empfand ich in dieser Richtung die Abstiege vom Wytlouwihoren und vom Schnierenhireli; das viel diskutierte Tannhorn ist sowohl im Auf- als auch im Abstieg sehr steil, sticht jedoch nicht heraus. Nach dem Balmi wird der Pfad wieder einfacher belaufbar (B2), und ab dem Rothorn läuft man auf Wanderwegen (B1+).
Unerwartet steht mir ein freier Sonntag bei prächtigen Verhältnissen bevor. Was tun? Sicher etwas Rechtes, das in vernünftiger Reichweite liegt. Nach einigem Hin und Her zwischen verschiedenen Zielen entscheide ich mich für den Brienzergrat. Dort wollte ich schon lange einmal hin, und da gleichentags in der Stadt Luzern der grosse Marathon veranstaltet wird, passt die Harder-Variante prima. Mit dem letzten Zug erreiche ich Interlaken kurz nach zwei Uhr nachts. Bei einem derart frühen Start sollte ich nach vollbrachter Tat zeitig wieder zuhause sein. Dank Zeitumstellung just an jenem Tag würde ich dann auch eine Stunde länger schlafen können.
Der nächtliche Start geht natürlich auf Kosten der Nachtruhe. Daheim reicht es für eine Stunde, und in den Zügen kommen noch zweimal eine halbe dazu. Kühle Morgenluft bringt mich in Schwung, als ich durchs nächtliche Interlaken marschiere. Schwierig zu sagen, ob die Nachtschwärmer vor den Bars mich für verrückter hielten als umgekehrt. Bald jedoch verlieren sich derartige Fragen im Dunkel der mondlosen Nacht.
Der Aufstieg durch den Harderwald ist ganz nach meinem Geschmack. Steil, trocken, mit Buchenlaub bedeckt und ab und zu durch felsige Passagen unterbrochen. Sobald ich auch nur hundert Meter Höhe über dem Talboden gemacht habe, stellt sich eine fast unheimliche Wärme ein. Man könnte fast kurzärmlig laufen! Im Fernsehen werden sie sagen, dass es noch nie so spät im Jahr so warm war wie an jenem Tag, und das gilt für die Nacht sicher ebenso.
Bald habe ich den Harderkulm erreicht und freue mich schon über mein flottes Vorankommen. Prompt entpuppt sich die Fortsetzung als sehr mühselig! Wurzelgewirr, scharfkantige Steine und Finsternis sind für sich genommen schon eine ungünstige Kombination, dazu kommt noch ein gänzlich unerwartete Müdigkeit in den Beinen.
Eine Stunde später schmerzen Knie und Hüftmuskeln bei jedem einzelnen Schritt. Hoppla, wirklich so wenig erholt?! Die täglichen Kurztests (die morgendlichen Velosprints auf den Bahnhof) hatten sich vielversprechend gut angefühlt. Offenbar war die Pause nach den Abenteuern im Gran Sasso-Gebiet doch nicht ausreichend. Denn nach 9km und 1’000 Höhenmetern sieht es nun danach aus, dass ich auch den Zug nehmen sollte. Eigentlich war mein Plan gewesen, mich irgendwo hinzulegen und ein Stündchen nachzuschlafen. Daraus wird dann doch nichts, weil ich wohl zu hohe Ansprüche an einen Schlafplatz stelle, und weil ich mich eigentlich trotz allem recht gut im Schuss fühle.
Also weiter durch die Dunkelheit dem sich schwach gegens Firmament abzeichnenden Suggiture entgegen, hinter dem sich das Augstmatthorn breit hochtürmt. Die Aufstiege sind rassig, aber nicht ausgesetzt, und oben empfängt mich endlich das erste Morgenlicht. Darüber ich froh, denn der Abstieg vom Wytlouwihoren fährt mir recht ein. Nur zögerlich steige ich hinunter, und meine Knie wollen mir nun definitiv weismachen, dass sie auch nicht 20-jährig seien. Ich widerspreche und mach klar, dass sie sehr wohl schon 20 Jahre alt sind, sogar schon mehrfach, und dass sie aufhören sollen zu jammern wie kleine Kinder. Das beendet vorläufig die verbale Auseinandersetzung, und es wird nur noch symbolisch kommuniziert. Mit jedem Schritt drücken sie scheinbar fürchterliche Schmerzen aus. Ich lanciere einen Gegenangriff und gebe das Programm für die nächsten Stunden bekannt: Weh tun. Immerhin gibt das eine konkrete Vorstellung von der Zukunft, und so kommt es dann vorerst einmal.
Auf dem weiteren Weg übers Gummhoren mit einem weiteren rässen Abstieg, Schnierenhireli und Allgäuhorn erreiche ich nach sagenhaften acht Stunden das Tannhorn. Der Aufstieg ist sehr steil, und just dort kommt mir ein echter Trail Runner im Laufschritt entgegen und scheint über diese steile Flanke hinunterzufliegen. Beeindruckt und mit leicht beschädigtem Selbstbild murkse ich mich hoch und lasse es so leichtfüssig wie möglich aussehen. Der Abstieg auf der Ostseite ist etwas weniger steil, aber immer noch gut ausgesetzt. Mein Tempo verändert sich deshalb nur unwesentlich.
In den frühen Morgenstunden ist enorm viel Steinwild zu sehen. Fast herdenweise ziehen die Böcke durch die steilen Grashänge über dem Thunersee und bieten prächtige Anblicke. Zu beiden Seiten des Pfads fallen steile Flanken hinunter, und manchmal ist links oder rechts neben den Schuhen wirklich fast nichts mehr.
Nach dem Tannhorn wird der Pfad teilweise sehr schmal, und mein Tempo wird dadurch alles andere als schneller, besonders auch, weil meine Knie immer noch den eingebildeten Kranken spielen. Nach einer ausgiebigeren Stärkungspause und dem Wechsel zu kurzen Hosen verbessert sich die Situation urplötzlich. Endlich läuft die Maschine wieder rund und von Schmerzen keine Rede mehr. – OK, vielleicht lag es auch an der halben Schmerztablette. Wenn es aber so ist, dann nehme ich nächstes Mal früher schon gleich eine ganze und erspare mir das ganze Theater!
Über den Weg selber habe ich nicht viel zu erzählen. Er verläuft stellenweise so spektakulär auf Messers Schneide, wie man es sich vorstellt. In meinem Zustand konnte ich das jedoch zu wenig geniessen. Zudem verschleiern Wolken zunehmend den Himmel, und der Föhn pfeift mir um die Ohren. – Ich und der Föhn sind alte Bekannte, und über die Jahre habe ich so einiges über sein Wesen gelernt. Zum Beispiel ist er kein warmer Wind, zumal in der Höhe. Er ist ein Wind, dessen trockene Luftmassen sich im Fallen mit 1° pro 100Hm um 50% stärker erwärmen als gewöhnliche feuchte Luft. Ist er auf 2’000m bspw. 5° “warm”, so bläst er in der Urner Reussebene auf 500müM mit 20°.
Umgekehrt kann man auch schliessen, dass sich die trockene Föhnluft mit zunehmender Höhe schneller abkühlt, als man sich das gewohnt ist. Sommerwärme in den Niederungen bedeutet bei Föhn eben gerade nicht, dass auf 2’000müM ebenfalls sommerliche Temperaturverhältnisse herrschen, ganz im Gegenteil! Und da es sich beim Föhn um einen Wind (!) handelt pfeift einem 5° kalte Luft um die Ohren und alles, was daran befestigt ist.
Ungemütlich! Auf dem Rothorn hat es drei grosse Gebäude, und beim obersten weht sogar eine Fahne im Wind. Aber auch dort ist alles zu, nicht einmal auf einen Automaten kann man hoffen. Nach zehn Stunden giere ich nach Abwechslung im Menüplan, und zudem muss ich die begehrten Fressalien rationieren. Ein Anruf im Bärghuis Schönbüel bestätigt mir, dass dort tatsächlich gewirtet wird und belebt meine Lebensgeister wieder. Auf zum gesegneten Bärghuis!
Zwei Stunden später und nach der innerlich hart ausdiskutierten Besteigung des Höch Gumme labe ich mich an Kaffee, Nussgipfel und alkoholfreiem Bier. Die Überschreitung des Wilerhorns, von den Obwaldnern Gumme genannt, stellt dann ein liebliches, zweistündiges Auslaufen dar. Fast beschwingt hüpfe ich zum Brünigpass hinunter. Buchstäblich fünf Meter vor der Passstrasse passiert mir das erste und einzige Missgeschick des Tages. Ich trampe in einen laubgefüllten Abwasserschacht und liege unversehens flach auf der Schnauze. Das muss so übel ausgesehen haben, dass ein vorbeifahrendes Auto sogleich anhält, um nach mir zu schauen. Glücklicherweise ist rein gar nichts passiert, und ich rette mich heil ins nahe Restaurant zu noch mehr Flüssigkeit.
Bald schon schaukeln mich Zentralbahn und SBB sicher nach Hause. Was für ein Tag! Es braucht mehrere Nächte mit zwölf Stunden Schlaf, um mich wieder erholt zu fühlen. Mit dem angekündigte Wetterumschwung wird es wohl eine der letzten Gelegenheiten des Jahres für diese Tour gewesen sein. Denn trockene Verhältnisse sind unabdingbar, wenn man mit Trailschuhen unterwegs sein will.
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