2023-02-17/18 Via Alta Val Colla: Lugano – Bellinzona

Spätherbstliche Tage im Tessin und kein Schnee im Norden. Schon länger hatte ich den südlichsten Zipfel der Schweiz im Auge. Nach diversen Planungsansätzen habe ich mich für die Umrundung des Val Colla von Lugano aus bis nach Bellinzona entschieden. Mit meinem Abstecher nach Italien über den Torrione kommen am ersten Tag fast 29 km und mehr als 2’500 Hm, am zweiten nur noch gut 16 km und knapp 600 Hm auf- und etwa 2’000 abwärts zusammen. Belaufbarkeit über weite Strecken B1, ab und zu B2. Die Überschreitung des Torrione kann man als B2+ bezeichnen. Perfekte Erreichbarkeit mit öV: Ab Luzern erreicht man den Ausgangspunkt auf rund 800 müM in sagenhaften 2:24, wenn man nicht die allerfrüheste Verbindung wählt.

Unterwegs mit der Eisenbahn ins Tessin zieht die Zentralschweiz an einem mässig bewölkter Tag wie Anfang Dezember vorbei. Die Berggipfel sind eingezuckert, aber an Skitouren denke ich nur entfernt, denn da braucht es zuerst einmal einen rechten Schneefall. Ich nutze die stabile Hochdruckwetterlage für eine letzte Trailunternehmung. In der Eisenbahn hat man gerade genug Zeit für ein ausgiebiges Frühstück, bevor man schon in Lugano aussteigt. Das städtische Gelände überwindet man mit dem Bus, der sich spektakulär über dem See emporschraubt, bis er schliesslich Brè Paese erreicht.

Von dort geht es zuerst einmal 700 Hm hoch zum Monte Boglia, von dem man freie Sicht in alle Richtungen hat. Im Süden geht der Blick zum Monte Generoso, im Westen gegens Wallis hin, nach Osten zu den mir fast unbekannten italienischen Voralpen, und im Norden zeigt sich zum ersten Mal das Val Colla. Im Nordosten die Denti della Vecchia mit der Fortsetzung des südlichen Begrenzungskamms, der in der Cima di Fiorina kulminiert. Von dort zieht der Kamm nach Norden zur Gazzirola hinauf, und deren Westgrat verlängert sich nach Westen bis zum Monte Bar, auf dessen Südflanke die gleichnamige Hütte steht.

Laut Karte ist die Gratbegehung nicht durchgängig möglich, sodass ich mit einem Abstecher via der geschlossenen Capanna Pairolo rechne. Wie ich die Aussicht studiere, fällt mir jedoch die markante Gestalt des Torrione auf, welcher der Cima di Fiorina südlich vorgelagert ist. Die Südkante fällt sehr steil ab, und ich frage mich, ob sich der Abstecher nach Süden lohnen könnte. Nach kurzer Recherche scheint diese Idee recht machbar, sodass ich mich in bewährter Manier auf eine rollende Planung einlasse.

Die Wege sind sehr gut unterhalten und gut belaufbar. Die Landschaft ist immer wieder lieblich, stellenweise hingegen steil und leicht ausgesetzt. Die Bäume sind kahl und lassen das Sonnenlicht gut durchscheinen. Schon bald laufe ich kurzärmlig und freue mich ob dem ausbleibenden Nordwind. Stellenweise pfade ich durch fast hüfttiefes Buchenlaub. Tiefe Spurarbeit ist angesagt, die jedoch leichtfällt, denn die dürren Blättlein sind federleicht.

Am Tag, wo Marco Odermatt und Loïc Meillard an den alpinen Skiweltmeisterschaften im Riesenslalom triumphieren, bringt mich die Mächtigkeit des goldbraunen Teppichs auf Ideen. Könnte so die Zukunft des Skisports aussehen? Biologisch und klimaneutral produzierter Schneeersatz, auf dem man die Hänge hinunterrutschen kann. Das ganze müsste selbstverständlich „indoor“ stattfinden, denn auf Nässe reagieren das Material schlecht. Zudem setzt es sich nicht wie Schnee, sodass es einen Sturz auch weniger dämpft. Deshalb müsste die Unterlage absolut frei von Steinen oder Wurzeln sein. Anstatt Schneekanonen kämen Heugebläse zum Einsatz, um die buchenroten Blättchen zu verteilen. Auf zwei Tagen auf Trails hat man viel Zeit, um derartige Fragen tiefgründig zu erörtern. — Interessenten melden sich bei mir!

Aufgefallen ist mir auch eine wahre Häufung von Berganemonen (auch: Alpen-Berghähnlein) in der Nähe der Denti della Vecchia. Bekanntlich bestehen jene aus Dolomit, und bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, dass Déodat Gratet de Dolomieu, der Entdecker ebenjenes Mineral, in einer wenig bekannten Schrift die Theorie aufstellen wollte, dass die Anemonen Überbleibsel der Bedeckung durch das Urmeer Thethys sind. Er beschrieb, wie sich einzelne Seeanemonenarten durch das schrittweise Zurückweichen des Meeres an das Leben auf dem Land anpassen konnten. Diese Gedanken nehmen sowohl Evolutionstheorie als auch die Kontinentalverschiebung vorweg — notabene um mehr als ein halbes Jahrhundert resp. gut 150 Jahre! Kein Wunder, dass Charles Darwins ihn wahrscheinlich für das letzte Universalgenie der europäischen Geschichte hielt.

Die Zeit ist meinen gedanklichen Abschweifungen sowieso gut gesinnt, denn im Bereich der Denti della Vecchia erwarte ich mehrfach, in weniger als 15 Minuten den Passo Pairolo zu erreichen. Aus unerfindlichen relativistischen Einflüssen treffe ich jedoch erst nach einer gefühlten Stunde endlich dort ein. Auf einem weniger deutlichen Pfad steige ich auf die italienische Seite ab. Der Charakter der Landschaft wechselt von dichtem Buchenwald zu karger alpinen Heidelandschaft mit Latschenkiefern auf Urgestein. Bei der Alpe di Dasio erreiche ich die Sohle des einsamen, verschneiten Val Galline. Den Bachlauf verfolge ich, bis er sich im steilen Gelände verliert. Oben steige ich entlang eines Gratrückens zum Fuss des Torrione hoch.

Steiles alpines Wiesengelände führt in der Südflanke empor, und man erreicht den Gipfel ohne Schwierigkeiten. Der Verbindungsgrat zur Cima di Fiorina hinüber wartet mit zwei Kraxelstellen auf, von denen die schwierigere mit einem Fixseil entschärft ist. Danach geht es flotter, und schon bald stehe ich auf dem höchsten Punkt der südlichen Kette um das Val Colla. Der Blick hinüber zur Gazzirola zeigt weniger Schnee als befürchtet, sodass die Überschreitung möglich scheint. Zugleich wird deutlich, wie weit der Weg noch sein wird. Ein Selbstläufer wird das nicht! Immerhin kann ich damit rechnen, mich im italienischen Rifugio auf dem Passo San Lucio zu stärken.

Der nördliche Abstieg zur Bocchetta San Bernardo weist eine kompakte Schneeauflage auf, was etwas Vorsicht verlangt. Eisig wird es jedoch nicht. Über rollende Hügel arbeite ich mich zum Rifugio hinüber und frohlocke, als mir ein Geruch von Kohlefeuer in die Nase sticht. Zu früh gefreut! Auf der Terrasse sitzt ein Wanderer beim Picknick und erklärt mir, dass er am Morgen noch bewirtet worden sei. Jetzt sei jedoch niemand mehr da. Also flösse ich mir die Reservenahrung ein und mache mich alsbald weiter auf. Mein Zeitbudget verkürzt sich zusehends, und neben den fast 600 Hm liegen rund 4 km Distanz zwischen mir und dem Gipfel.

Hoch geht es flott, doch auf dem scheinbaren Gipfel realisiere ich, dass noch ein Kilometer Gratwanderung fehlt. Ausserdem liegt hier in den Mulden zunehmend Schnee, was mein Vorankommen verlangsamt. Auf dem Gipfel schliesslich pfeift mir urplötzlich ein giftig kalter Nordwind um Ohren, Bauch und Knie, sodass ich mich schleunigst warm einkleide und von dannen mache. Auch grosszügig berechnet dauert es nicht mehr lange bis zum Sonnenuntergang, und ich habe noch 5 km vor mir.

Ausgerechnet jetzt stechen mir Schmerzen ins Knie. Wie bitte?! Soll das etwa wieder so ein Theater wie am Brienzergrat werden? Damals geschah es jedoch im Aufstieg, und ich hatte den ganzen Tag lang nichts Beunruhigendes wahrgenommen. War vielleicht die beissende Kälte am Gipfel schuld? Hilfreich war sie bestimmt nicht, aber zehn Minuten im Wind können doch nicht gleich solche Schmerzen bewirken. Vielleicht vergehen sie von selber wieder, wenn sich die Gelenke an die neue Bewegung gewöhnt haben? — Nein, es wird immer schlimmer! Also doch die bewährte Therapie, und sogleich wird es besser.

Sachte steige ich ab und such den flachsten Weg zur Hütte. Beim Passo di Pozzaiolo wechsle ich vom Grat in die Südflanke und suche den Weg, der offensichtlich einer Wasserleitung folgt. Dort versorge ich die Sonnenbrille und setze die Stirnlampe auf. Die Dunkelheit nimmt langsam Besitz von der Landschaft und dann auch vom Himmel. Nach den Planeten prangen erste Sterne am Himmel. Endlich zeigt sich Orion direkt vis-à-vis im Süden und begleitet mich auf meinem Weg durch die Nacht.

Nach der letzten Kurve leuchtet die Capanna Monte Bar in der Dunkelheit, und alsbald sitze ich in einer archetektonische modernen Stube an der Wärme und versuche, beim Essen nicht einzuschlafen. Dafür pfuse ich im Zimmer umso tiefer.

Tags darauf frühstücke ich eine Stunde lang und steige kurz nach neun Uhr zum Monte Bar hoch. Der Wind hat sich etwas gelegt, und wider Erwarten ist auch der Nord schneefrei, sodass ich auf direktestem Weg ins Val d’Isone hinuntersteigen kann. Für den Abstieg ins Val Mara folge ich von Pian Bello einem veralteten Pfad, der über steiles Gelände hinunter führt. Da er nicht auf OpenStreetMap aufgeführt ist, werde ich ihn dort nachtragen. Ich war schon so oft froh über die hohe Qualität jenes Kartenmaterials, dass ich mich richtig freue, dort mitwirken zu können.

Isone ist für eine ganze Generation junger Schweizer ein verlorener Ort, denn dort befindet sich die Kaserne mit der Grenadierrekrutenschule. Heute präsentiert sich das Dorf fried- und lieblich. Nach Caffé und Brioche ziehe ich zum Übergang in die Riviera hoch. Der anschliessende Abstieg nach Giubiasco führt gleichmässig fallend durch Laubschwaden in steilem Buchenwald hinunter und unten erwartet mich frühlingshafte Wärme.

In Bellinzona beginnt gerade der Corso des Carnevale, und ich nehme gerne ein Ohr der fröhlichen Klänge mit nach Luzern an die Fasnacht. Auf der Rückfahrt begrüsst mich im Urnerland ein warmer Novembernachmittag. Der See liegt spiegelglatt unter einem makellosen, blauen Himmel. Einzig ein Dampfschiff schaukelt gemächlich Flüelen entgegen, und vor Brunnen dümpeln zwei Segelschiffe herum. Wer würde glauben, dass Mitte Februar ist und eigentlich Zeit für Skitouren?


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