Bezaubernd der Sonnenaufgang am einsamen Sandstrand, sogar für einen eingefleischten Meeresverachter wie mich! Wohlgemut breche ich auf ins wilde Unbekannte — “selvaggio sconnosciuto”. Direkt hinter meinem Lagerplatz führt eine breite Rinne hoch, die zunehmend steiler und der Untergrund — wer hätte es erwartet — loser wird. Glücklich auf einem kleinen Absatz angekommen, stellt sich zum ersten von unzähligen Malen wieder die Frage, wie weiter. Mehr als eine allgemeine Idee vom Verlauf habe ich nicht. So schlage ich mich aufs Geratewohl hoch. Nach etlichen unangenehmen Höhenmetern erreiche ich mitten im dichten Unterholz eine Art von Pfad. Lernfähig, wie ich bin, traue ich dem ersten Befund nicht ganz. Woher soll diese Spur denn herkommen?! Ich kann es mir heute noch nicht erklären.
Heute steht vor Lektion 2 zuerst noch eine Vertiefung der ersten Lektion in sardischer Spuranlage an: Wo es einen Pfad hat, da hat es tatsächlich einen. Anders als ich es gewohnt bin, gibt es kaum Wildwechsel oder alternative Pfadverläufe. Kunststück! Wer einmal eine Spur gefunden hat, lässt nicht mehr von ihr los — sofern er Lektion 1 verinnerlicht hat. Bei mir besteht jedoch Nachholbedarf. In der Tat verliere ich die Spur über kurz oder lang und würge mich durch zunehmend abschüssigeres und brösmeligeres Gelände hoch. Immer öfter klammere ich mich geistig am sardischen Baumdogma fest.
Irgendwann führt ein Pfad irgendwo im Wald auf ein kleine Felsformation, bei der sich die Spur — wer hätte es erahnt — wieder vollständig verliert. Dahinter wird der Blick auf die imposanten Felswände der Punta Mudalora frei; allerdings trennt mich davon ein fast ebenso eindrücklicher Graben. Ich kämpfe mich direkt durch Gehölz hoch und erreiche am Fuss der Wände ein Felsgrätchen, wo eine sardische Baumstammleiter den Übergang ermöglicht, worauf ich mehrheitlich weglos aufsteige. Der metaphysische Druck zeigt sich auch ganz real im Körperlichen. Ich fühle mich regelrecht ausgelaugt, sowohl von den Strapazen, als auch von der permanenten Anspannung. Zudem habe ich Durst, und meine Wasservorräte gehen langsam wieder zur Neige.
Es gibt Tage, an denen einem nicht nur nichts gelingt, sondern vielmehr noch alles “abverhëit”, d.h. schief läuft. Solche muss man mit Gleichmut ertragen und soll daraus Hoffnung schöpfen, wenn sie dann eintreten, wenn es auch drin liegt. Tage wo nichts Schlimmes passiert, und wo sich möglichst alle ungünstigen Strömungen entladen sollen, damit man eine Zeitlang wieder ruhen haben möge. Und dann gibt es Tage, an denen Zauberei und kleine Wunder geschehen, und die entscheidenden Dinge einfach aufgehen. Jeder hat das schon erlebt, der sich dem Unterwegssein ganz ausgeliefert hat. Am Fuss der zweihundert Meter hohen Felswände liegt ein Papierbeutelchen mit einem Zweiglein frischer Cherrytomätchen.
Gestärkt in Leib und Seele mache ich mich auf den Weiterweg, welcher nun klar ersichtlich ist. Entlang dem Fuss der Felswände erreiche ich alsbald den Originalweg, welcher von der Punta Mudalora herunterführt. Bald darauf erreiche ich den markanten Torbogen und nach einigen Kraxeleinlagen anschliessend die erste Abseilstelle. Eine ganz neue Herausforderung wartet auf mich! Am 6mm “dicken” Seil abzuseilen, habe ich zuhause schon getestet. Den Rucksack mit 20kg Zusatzgewicht hängte ich dabei an einer Schnur im Abseilkarabiner ein, und führte ihn zwischen den Füssen mit. Weil das so gut geklappt hatte, und weil mir das 20m-Wändchen nur wenig Eindruck machte, lasse ich den Rucksack gleich auf dem Rücken und gleite hinunter. In der Tat sind die ersten paar Meter nicht einmal senkrecht, und darunter sieht man gleich den Boden.
Aha! Noch einmal langsam: Nach ein paar Metern bricht das geneigte Gelände also in einer Kante in einen Überhang ab, denn sonst würde man darunter nicht direkt den Boden sehen, sondern den Rest der Wand. Bis ich das realisiert habe, hänge ich schon im Überhang und versuche zunehmend verzweifelt, stets ausreichend Reibung auf das Seil auszuüben, denn erstens ist der Griff am Seil mit schweissnassen Händen deutlich weniger fest als zuhause bei kühlem Wetter, zweitens beisst der Klemmknoten nicht, sondern rutscht durch, und drittens zieht mich der Rucksack nach hinten. Bis auf den letzten Punkt erwischen mich diese Probleme unvorbereitet, und ich habe echt zu kämpfen, um den Boden sicher zu erreichen. “Nicht nochmals!” schwöre ich mir.
Auf dem nachfolgenden Abschnitt traversiert man grosse Halbhöhlen, die mich an die Felsbrücken in der Ostwand des Widderfelds erinnern. Schon von weitem erblicke ich dichte Oleanderstauden, was auf Wasser schliessen lässt. Zu meiner freudigsten Überraschung findet sich dort ein ganzer Kübel voll Tropfwasser, an dem ich mich gierig labe und meine Vorräte wieder auffülle. Meine permanent grösste Sorge ist erneut überwunden, und dem Weiterweg steht nichts im Weg. Ansonsten wäre es knapp geworden, und ich hätte bei nächster Gelegenheit den Rückzug antreten müssen. — Nichts steht im Weg? Eigentlich ist es andersrum, nämlich scheint der Weg nicht mehr zu bestehen, als ich um die Ecke zum Portu Mudaloru spähe. Obendurch führt ein schmales, abdrängendes Band zu einer exponierten Schulter auf der Kante. Bald verlassen mich dort Mut und Zuversicht, und ich traversiere im Fels gegen die Kante hin. Sackgasse, zurück und weiter unten probieren, nichts! Also doch über das Band? Tatsächlich erweist es sich trotz Rucksackungetüm als weniger abdrängend als befürchtet, und nach der Kante zeigt sich deutlich der Weiterweg. Mario Verin beschreibt dies als “un passagio molto suggestivo” und auf englisch: “Here a narrow ledge permits you to go around the arete in a very evocative position.”
Auf der gegenüberliegenden Seite zieht eine Rüfe hoch, und der Weg zieht dann tatsächlich auch dort hoch. Unten verläuft er im Fels mit deutlichen Begehungsspuren, welche sich jedoch bald verlieren, und so kämpfe ich mich wieder einmal durchs Unterholz, bevor ich widerwillig in die steile Geröllhalde traversiere. Der Untergrund ist recht lebendig, und die Steinschlaggefahr nicht zu ignorieren. Da jedoch weit und breit keine Menschenseele zu erblicken ist, muss ich mich nicht darum kümmern. Man steigt am orographisch rechten Rand hoch, und traversiert erst zuoberst auf die andere Seite. Ab dort ist der Weiterweg recht gut zu finden. Man kommt an einigen echten Höhlen vorbei, welche sich bis an ihr Ende erforschen lassen. In zweien davon findet sich zuhinterst wiederum ein Kübel, in dem Tropfwasser gesammelt wird. Kühles, frisches Trinkwasser — einfach himmlisch!
Bald darauf stehe ich an der nächsten kurzen Abseilstelle. Mittlerweile habe ich meine Abseiltechnik verbessert und die Probleme lösen können. Erstens befestige ich den Englisch-Prusik am losen Seil und nicht mehr am gespannten, und zweitens führe ich das Seil zusätzlich hinter dem Oberschenkel durch, um mehr Reibung zu erzeugen. Damit läuft es wie am Schnürchen (!) und ohne erhöhte Adrenalinausschüttung. Der Weg führt danach zu einem kleinen Wändchen, das sich gut erklettern lässt, und darüber zeigt ein Fixseil die weitere Kletterei entlang des Felsgrats an. Oben angekommen, gibt es offenbar mehrere Varianten. Ich steige weiter links hoch und erreiche einen Sattel, von dem es auf der anderen Seite über eine Erscheinung des sardischen Baumdogmas hinunter geht — es wird nicht die letzte Glaubensprüfung des Tages sein!
Am grossen Felsbogen Arcu su Feilau treffe ich auf Menschen, die scheinbar aus dem nichts auftauchen. Nach innerer Rücksprache lehne ich die Vermutung ab, dass es sich um göttliche Boten handle, denn sie sprechen neben Italienisch auch einen Südtiroler Dialekt. Das Zusammentreffen erweist sich als wenig erbaulich, aber das beruht wohl auf Gegensätzlichkeit. Sie kamen heruntergeschwebt auf einer Abseilerei über mehrere Seillängen und werden bald vom Boot abgeholt. Zuvor steht jedoch noch eine spirituelle Prüfung an, denn vom Bogen muss über eine dünne Holzkonstruktion hinüber und dann an einer sehr fragilen Konstruktion hinunter geklettert werden. Wenn glauben selig macht, dann ist meine Seele nun zur Heiligsprechung bereit. Viel mehr Turnerei auf und an glatten Holzstämmen möchte ich mir mit schwerem Zusatzgewicht nicht zumuten.
Der Weg zieht im dichten Gehölz dem Fuss einer Felswand entlang das Tal hinauf, und man muss sich vor Steinschlag in acht nehmen. Auch hier ist es nicht einfach, eine Spur zu erkennen. Da zeigt sich mir weiter oben auf der Suche nach dem richtigen Weg das Licht der Wahrheit. Verin schreibt: “A steep ramp climbs rightwards to some big holm oaks.” Wer sich fragt, wie man im bewaldeten Gebiet Steineichen als Wegmarken betrachten kann, ist auf dem Weg der Erkenntnis noch nicht weit fortgeschritten. Diese Bäume sieht man nicht einfach, man erkennt geradezu ihr Inneres als Manifestation des sardischen Baumdogmas. Im weichen Abendlicht schwebe ich schon fast meinem Tagesziel entgegen, wenn da nur nicht die vermaledeiten Karrenfelder wären.
Endlich erreiche ich den wunderschön gelegenen und ebenso instandstehenden Ovile Piddi, wo ich mein Nachtlager errichte. Endlich geht mein Traum in Erfüllung, einmal in einer solchen Stein- und Holzkonstruktion, einer veritablen sardischen Kathedrale, zu übernachten. Ich strecke die Beine von mir und packe den Rucksack aus. Offenbar übernachten dort öfters mal Leute denn unter einem Stein lugt eine freche Maus hervor, was bedeutet, dass meine Vorräte in Gefahr sind. Also überlege ich mir, wie ich sie nagersicher aufbewahren kann. Zwar habe ich alles in feste Alutüten gepackt, aber ich befürchte, dass sich ein Rudel Mäuse auf Dauer nicht davon abhalten lässt, und dass auch anderes Material verbissen werden könnte. Zufrieden mit meiner Aufhängung und müde vom ganzen Tag verbringe ich eine wunderbar ungestörte Nacht.
Dritter Tag bis zum Ovile Piddi
Von der Cala Mariolu bis zum Originalweg kurz vor der ersten Abseilstelle unter der Punta Mudaloru eine echte Herausforderung. Danach über weite Strecken gut erkennbarer Weg; mehrere Kletterstellen.
- Von der nördlichen Bucht der Cala Mariolu durch eine steile, schuttige Rinne und dann weiter hoch, bis auf einen Weg, der die steilen Flanken auf ca. 175 müM traversiert.
- Bei einer Felsformation vor der breiten Runse, welche einen von der Flanke unterhalb der Punta Mudaloru trennt, den Felsen nach hoch bis zu einer roten Höhle. Dort weiter hoch und am Fuss der Felswände über den Felsgrat.
- Weiter aufsteigen unter die mächtigen Felswände, und ihrem Fuss folgen, bis man auf den Originalweg trifft.
- Steiler Abstieg zur Abseilstelle (20 m, eingerichtet, mehrheitlich überhängend) über einige nicht ganz einfache Kraxelpassagen
- Kübel mit Tropfwasser in einer der folgenden Halbhöhlen
- Kurz vor dem Portu Mudaloru über ein schmales, abschüssiges Bank ums Ecke; von dort über schmalen Pfad ins Tal hinunter.
- Direkt weiter über etwas Fels und dann bald in die Rüfe; an deren orographisch rechtem Rand aufsteigen, bis zuoberst traversiert wird.
- Mehrere Höhlen unter dem Bruncu d’Urele mit Tropfwasserbecken
- Kurze Abseilstelle (20 m, eingerichtet, geneigt)
- Ungefähr oberhalb der Grotta del Fico kurze Kletterstelle und danach einem Fixseil entlang über eine Platte. Dort weiter dem Verlauf der Felsen folgen und oben über einen Sattel auf der anderen Seite hinunterkraxeln.
- Nach dem Felsbogen Arco su Feilau eine exponierte, dünne Holzbrücke, gefolgt von einer fragilen “Leiter”; bei beiden braucht es bäumiges Vertrauen.
- Durchs Tal am Fuss der Felswände hoch und darüber auf einem Band wieder zurück. Vorsicht vor Steinschlag!
- Auf recht gut erkennbarem Pfad und zum Schluss über befestigte Mautierpfade zum sehr schönen Ovile Piddi.
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